Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Was kostet die Welt?

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Es kostete jedes Mal viel Kraft, den schweren Sessel nach vorn zu rücken. Aber je näher er an der Flimmerkis­te stand, umso tiefer konnten wir damals eintauchen in die glitzernde Tennis-Welt, die auch uns in ihren Bann zog. Da spielte es keine Rolle, dass der gelbe Filzball nur grau daherkam. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis der erste Farbfernse­her das Wohnzimmer zierte. Und auch die Grenze, die in den 80ern dieses Land noch teilte, konnte unserer Begeisteru­ng nichts anhaben.

Und das lag an diesem rotblonden Jungen, der am Mikro genauso holprig sprach wie wir auf dem Schulhof; der sich in die Bälle warf wie wir es beim Flugkopfba­ll auf dem Bolzplatz gern gekonnt hätten – und der vor allem ein Match nach dem anderen gewann. Im Juni 1985 war auf dem heiligen Rasen von Wimbledon der Stern von Boris Becker aufgegange­n. Und wir befanden uns in seiner Umlaufbahn.

Keine Woche verging, in der draußen nicht der Strick gespannt und mit Kreide das Spielfeld auf den Asphalt gezeichnet wurde. Jeder wollte Becker sein; das war manchmal wichtiger als der Ausgang des Spiels. Und abends wurde der Schläger erst aus der Hand gelegt, wenn der Schaumgumm­i-Ball nicht mehr zu erkennen war.

Mehr als drei Jahrzehnte später hat sich einiges verändert. Die Fernseher sind mittlerwei­le so groß wie die elterliche Schrankwan­d damals. Der Tennis-Held von einst schreibt längst keine sportliche­n Schlagzeil­en mehr. Er sorgte für Aufsehen mit seiner Besenkamme­r-Affäre, die ihm eine Tochter einbrachte. Er setzte Firmen in den Sand, wurde wegen Steuerhint­erziehung zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt und nahm so ziemlich jede Einladung an; egal, wie peinlich die TV-Shows auch waren. Becker ließ nach seiner tollen Karriere wenig Fettnäpfch­en aus. Und deshalb verwundert­e uns das Londoner Urteil in dieser Woche nicht. Der Mann, der früher so viel Gefühl in den Fingern hatte, besitzt offenbar überhaupt kein Händchen für das Finanziell­e.

Eine Schwäche, die viele Sportstars eint. Box-Ikone Mike Tyson soll seine enormen Preisgeld-Millionen allesamt verprasst haben. Basketball-Star Allen Iverson hat angeblich fast 200 Millionen Dollar verdient – und wieder ausgegeben. Einer US-Studie zufolge sind 78 Prozent der Football-Profis und 60 Prozent der NBA-Basketball­spieler innerhalb weniger Jahre nach dem letzten Korbwurf in finanziell­en Schwierigk­eiten oder völlig pleite. Und frühere deutsche Fußballsta­rs wie Thomas Häßler oder Eike Immel mussten sich gar das Dschungelc­amp antun, um die leere Kasse aufzufülle­n.

Das häufige Scheitern kommt nicht überrasche­nd. Jahrelang lebt der TopSportle­r in einer Scheinwelt. Ihm wird alles abgenommen – vom Häuserkauf bis zum Versicheru­ngsvertrag, von der Tischbeste­llung im Restaurant bis zum Engagement eines Babysitter­s. Mit jedem Gehaltssch­eck wird der Freundeskr­eis größer. Und da immer genügend Geld vorhanden ist, gibt es auch keine Probleme. Das Leben ist schön.

Bis die Blase platzt; und nicht lange nach dem Karriereen­de das böse Erwachen kommt. Die falschen Berater sind dann längst über alle Berge, und mit ihnen das Geld in teilweise aberwitzig­e Investitio­nen. Umgerechne­t etwa 50 Millionen Euro soll Boris Be- cker bei Tennisturn­ieren erspielt haben. Seine Werbeeinna­hmen dürften ebenfalls im zweistelli­gen Millionenb­ereich liegen. Seine Mercedes-Autohäuser laufen angeblich grundsolid­e, ihm gehören etliche Immobilien. Und sein Job als Trainer von Superstar Novak Djokovic hat ihm ganz bestimmt auch einiges eingebrach­t.

Dass er dennoch öffentlich für bankrott erklärt wird, ist irgendwie tragisch – und menschlich zugleich. Wie damals, als die leichte Vorhand im Aus oder der einfache Volley im Netz landete, können wir mit ihm mitfühlen. Trotz allen Ruhms und Reichtums – der Mann baut den gleichen Mist wie wir – in anderen Dimensione­n, wohl wahr, aber ebenso haarsträub­end und naiv. Vielleicht ist es das, was Boris Becker noch immer so liebenswer­t macht.

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