Thüringer Allgemeine (Arnstadt)
Als ob es kein Heute gibt und kein Morgen
Paulo Coelho lässt Mata Hari 100 Jahre nach deren Hinrichtung ihr skandalumwittertes Leben erzählen
Eine Frau steht am Meer. Sie wirft einen Stein ins Wasser. „Fliege weit weg“, ruft sie, „und nimm meine Vergangenheit mit dir. All meine Scham, all meine Schuld, meine Fehler.“Immer und immer wieder schleudert sie Steine. Sie wird zornig, als ob es kein Heute gibt und kein Morgen.
So erzählt es uns der Schriftsteller Paulo Coelho. Und er liefert uns sogleich in den ureigenen Worten der Frau nach, was ihre Schuld, ihre Scham, ihre Fehler sind. „Ich schlafe mit reichen Männern, die mir dafür Einfluss verschaffen und Geld und schöne Kleider.“
Eine Frau lässt ihr Leben an sich vorüberziehen. Eine Frau, die es weit gebracht hat, und die schon in weni- gen Stunden vor einem Erschießungskommando stehen wird.
Am 15. Oktober 1917 stirbt die Tänzerin Mata Hari im Kugelhagel. Ein französischer Offizier verpasst der vermeintlichen deutschen Spionin den Gnadenschuss.
Seitdem sind Dutzende Bücher über Mata Hari erschienen, etliche Filme erzählen ihr Leben, Bühnenwerke huldigen der einstigen Nackttänzerin, die Punkrocker „Die Ärzte“und Madonna haben sie besungen. Doch keines all dieser Werke ist wie Coelhos Roman.
Er besteht aus zwei fiktiven Briefen. Den ersten, langen Brief schreibt Mata Hari aus der Todeszelle. Er richtet sich an ihren Anwalt, der zur gleichen Zeit aufschreibt, warum sie nicht die Spur einer Chance hatte.
Beide nehmen uns mit in eine Welt voller Erinnerungen und Reflexionen, voller Hoffnungen und Missverständnisse. Wir erleben Schlüsselszenen eines Lebens mit und begegnen dem Dämonen der Melancholie. Bin ich unschuldig, wird sich Mata Hari fragen und erkennen: Unschuldig ist nicht ganz das richtige Wort. „Ich war nie ein Unschuldslamm.“
Doch war sie wirklich eine Spionin? Hat die Tänzerin mit dem Decknamen „H21“tatsächlich Geheimnisse an die Deutschen verraten?
In wenigen Tagen ist der Schauprozess gegen sie genau 100 Jahre her. Dann werden die französischen Behörden voraussichtlich die Akten freigeben.
Wer Coelhos Buch liest, ahnt: Eigentlich kommt es überhaupt nicht darauf an, was in diesen Dokumenten steht. Vieles werden sie erklären können, aber eines gewiss nicht: den Mythos Mata Hari.
Paulo Coelho: „Die Spionin“, Diogenes, Seiten, , Euro