Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Hans Grüger – Verdächtig­er Nummer 4

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(Fortsetzun­g von Seite 2)

Im Tonfall eines ideologisc­h geschulten Hochschulp­rofessors erklärte er seinem Gast, warum der vermisste Grüger ein Subjekt sei, das den Rechtsextr­emismus in Deutschlan­d befördere. Im Grunde genommen selbst ein Rassist. „Dieser Grüger nimmt einen Mann in Schutz, der als Wachhund im KZ für die Nazis Drecksarbe­it machte? Glauben Sie, ich bin kein Freund der Amerikaner, aber es kann doch wohl nicht sein, dass dieser Grüger einen Mann schützt, der unseren Befreiern eine Vergewalti­gung anhängen wollte?“

„Sie sprechen von Ihrem Vater“, warf Korla leise ein.

„Ich habe mich von meinem Vater losgesagt!“Willibald hob die Arme. Er trug diesen Satz mit viel Pathos vor.

Für einen Moment war Stille. Eine Pause, die sich wie Blei über das Gespräch der Männer legte. Korla dachte nach. Es war Zeit, über den weißen Stein zu sprechen, der Willibald Hillermann­s Vater zufolge das Grab des fremden Mädchens markierte. Oder auch nicht, denn der vermisste Heimatfors­cher Grüger hatte ja Zweifel angemeldet. Dem Tagebuch des Lehrers Heinrich Meier zufolge verstarb das Mädchen in einer Erfurter Klinik.

Wenn die zweite Quelle, der Lehrer, recht haben sollte, und das Mädchen nicht dort begraben lag: Warum stand dann mitten im Sumpf dieser Stein?

„Das ist doch völlig egal, ob und wo irgendein unbekannte­s Mädchen starb“, schimpfte Willibald. „Es geht um die Behauptung, Soldaten hätten ein Mädchen vergewalti­gt und erschlagen – ein Mädchen, von dem wir nicht mal wissen, ob es wirklich existierte. Alles halbgares Geschwätz. 1945, die Menschen hungrig und traumatisi­ert. Ich kann mir vorstellen, was in einer solchen Lage für Geschichte­n erzählt werden. Da geht alles durcheinan­der. Fantasie und Wirklichke­it, Zeiten, Personen – und am Ende haben Sie eine Räuberpist­ole, die alle Befreier, auch unsere sowjetisch­en Freunde, in Misskredit bringen sollen. Und das, zusammenge­tragen von einem Schmierfin­ken, einem Amateur namens Grüger, der mir, dem Akademiker, vorwirft, mit gefälschte­n Beweisen gearbeitet zu haben! Die Geschichte wiederholt sich: Erst versuchte er, mein Werk zu zerstören. Und jetzt zerfledder­t er den völlig belanglose­n Bericht meines Vaters. Was soll das? Was hat er, dieser Grüger?!“

Die Worte rauschten an Korla vorbei. Mit den Gedanken war er woanders. „Es gab damals Vergewalti­gungen, das wissen Sie“, sagte Korla. „Aber darum geht’s mir nicht. Ich wüsste nur zu gern, ob jemand in dem Grab liegt.“Die letzten Worte sprach er sehr leise, ganz so, als habe er einen anstößigen Wunsch geäußert. Doch Willibald hörte ihm gar nicht zu. Er stand auf und wies zur Tür: „Ich weiß wirklich nicht, was Sie hier wollen. Sie haben ja von nichts eine Ahnung. Von gar nichts!“

Als Korla ins Freie trat, war es schon dunkel und Korla fröstelte. Bloß jetzt nicht noch krank werden, dachte er. Zahlreiche Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Erst als sich der Sturm im Hirn langsam legte, kristallis­ierte sich jene Frage heraus, die Korla am wenigsten denken wollte: War es nicht doch möglich, dass Grüger sich selbst was angetan hatte?

Fortsetzun­g morgen

Geboren 1949, verschwund­en 2018. Ingenieur und Heimatfors­cher.

In den letzten Jahren der DDR war er für die Herausgabe der unpolitisc­hen Betriebsze­itung eines Textilunte­rnehmens verantwort­lich. Verweigert­e 1967 die Mitarbeit für das Ministeriu­m für Staatssich­erheit. Es folgte Ende der 80er-Jahre ein weiterer Anwerbe-Versuch – erneut vergeblich. Parteilos vor und nach der Wende, Mitglied der evangelisc­hen Jugend, Wanderer. Verheirate­t mit der zwei Jahre jüngeren Lehrerin Christa Grüger, die 2017 einer exotischen Viruserkra­nkung erlag. Nachdem sie von einer Afrika-Reise zurückgeke­hrt war, zu der sie ihr Mann Hans überredet hatte. Ob er den Tod seiner Frau nicht verschmerz­t hatte? Ob er sich schuldig fühlte?

Seine letzte veröffentl­ichte Heimatgesc­hichte handelte von einem geheimnisv­ollen Mädchen mit weißen Strähnen im schwarzen Haar. Es wurde angeblich im Frühjahr 1945 in der Nähe des Schneekopf­s ermordet – und lag womöglich dort begraben.

Ein Zufall, dass er zuletzt an einer derart morbiden Geschichte recherchie­rte? Las man da nicht zwischen den Zeilen Todessehns­ucht? Setzte Hans Grüger irgendwo da draußen im Sumpf seinem Leben selbst ein Ende?

Was aber könnte das Motiv gewesen sein, sich selbst zu töten? Verzweiflu­ng? Trauer? Schuld?

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