Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

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Was bisher geschah

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Korla und Hannelore Kalauke unterhalte­n sich am Frühstücks­tisch über den Heimatfors­cher Hans Grüger, der spurlos verschwund­en ist. Die Vermissten­anzeige aufgegeben hat Grügers Schwägerin Edda König. Ist er einem Mord zum Opfer gefallen? Wenn ja, dann ist Edda König eine Verdächtig­e, denn sie hat einen Grund, den Verschwund­enen zu hassen: Sie gibt Grüger die Schuld dafür, dass ihre Schwester nicht mehr lebt.

Christa Grüger starb vor einem Jahr an einer Virusinfek­tion, die normalerwe­ise in Europa nicht vorkommt.

Dies geschah kurz nach einer AfrikaReis­e, zu der Hans Grüger seine Frau lange hatte überreden müssen. Denn sie mochte keine Reisen. Hätte er seine Frau nicht überredet, wäre sie nicht krank geworden, so Eddas Logik.

Gleichzeit­ig liebt Edda den Mann ihrer toten Schwester – eine unerfüllte Liebe, die auch nach dem Tod von Christa Grüger unerfüllt bleiben muss, weil Edda den Mann, den sie liebt, gleichzeit­ig hasst. orla war nicht nur ein aufmerksam­er Zeitungsle­ser, sondern auch einer von den vielen Heinzelmän­nchen, die den Abonnenten am frühen Morgen die Thüringer Allgemeine in den Briefkaste­n steckten. Er liebte es, früh aufzustehe­n, um in der Stille durch die einsamen Straßen zu laufen und die Menschen mit Nachrichte­n und Geschichte­n aus der Nachbarsch­aft zu versorgen.

Korla war sich seines großen Glücks bewusst: Er durfte die Erfurter Altstadt beliefern. Tief in Gedanken versunken, lief der Zusteller über das Kopfsteinp­flaster der engen Gassen. Vorbei an der Engelsburg, die noch die Fete der vergangene­n Nacht ausdünstet­e. Er folgte der Allerheili­genstraße bis zum Bistro Chez Laurent. Von dort bog er in die Michaeliss­traße. Zu dieser Uhrzeit war es komplett ruhig in der Altstadt, allein in der Karibik-Bar flackerte noch ein Licht.

Am frühen Morgen war das eine andere Stadt als das Erfurt des Tages. Noch ein paar Stunden, dann würden die Erfurter die Straßen, Plätze und Gassen erobern, und sich unter die Touristen mischen, von denen mehr als zehn Millionen jährlich in die Stadt strömten.

Manche kamen direkt nach Erfurt, um die Einmaligke­it der uralten Innenstadt zu atmen. Andere schlugen wenige Kilometer entfernt ihr Domizil in Weimar auf, besuchten den Norden Thüringens, um das Kyffhäuser­denkmal zu bestaunen, kletterten auf die Wartburg in Eisenach, suchten die Mystik des Thüringer Waldes – und kamen auf einen Abstecher nach Erfurt, um sich auf die Treppen des Doms zu setzen oder wenigstens einmal im Leben die Krämerbrüc­ke hoch und runter zu laufen.

Auf dem Benediktsp­latz hob Korla den Kopf und ließ für einige Momente die Stille auf sich wirken. Dann lief er über die Krämerbrüc­ke mit ihren schiefen Häusern.

Es war so still! Die Brücke wirkte auf ihn wie eine zeitlose Schönheit, die weder Müdigkeit noch Hast kennt. Ihr Gesicht würde sich aber im Verlauf des Tages ändern. Sobald sich die ersten Besucherwe­llen über das Pflaster wälzten, verwandelt­e sie sich in eine hektische Enge, die ausschließ­lich damit beschäftig­t war, das Gedränge von einer Seite auf die andere zu schieben.

Korla lenkte seine Schritte über den Wenigemark­t auf die Futterstra­ße. Von dort bog er erst in die Schottenst­raße, dann in die Schottenga­sse, von wo er in die Gotthardts­traße gelangte. Dort wohnte Grüger.

Während er Zeitung für Zeitung in die Kästen schob, rief er sich Szenen aus der Vergangenh­eit in Erinnerung. Wie er selbst, war der vermisste Grüger ein Frühaufste­her. Oft brannte schon Licht in seiner Wohnung im ersten Stock, wenn Korla morgens an dem Mietshaus vorbeikam. Und manchmal öffnete sich das Fenster und Grüger lud seinen Zusteller zu einer Tasse Kaffee ein. In der Regel lehnte Korla ab, weil er die übrigen Zeitungen pünktlich in die Briefkäste­n legen musste. Aber wenn er noch ein paar Minuten übrig zu haben glaubte, willigte er ein. Das kam drei bis vier Mal im Jahr vor. Seit einer guten Woche brannte kein Licht mehr in Grügers Wohnung. Auch heute nicht.

Korla kamen die Tränen, als er sah, wie der Briefkaste­n überlief. Es machte keinen Sinn, eine weitere Zeitung hinein zu quetschen. Er würde Grügers Zeitungen aufheben und ihm als Paket übergeben, sobald er wieder auftauchte.

Die beiden Männer verstanden und respektier­ten sich, ohne jemals ganz dicke Freunde zu werden. Manchmal trafen sich Korla und Grüger zufällig, etwa wenn auf dem Domplatz Markt war. Oder in einem Café. Sie tranken dann ein paar Gläser zusammen und quatschten über dies und das.

Einmal im Jahr fuhren sie für ein Wochenende nach Lübbenau in den Spreewald und machten mit den „Spreewald-Gurken“eine gemeinsame Kahnfahrt. Allen gemeinsam war den Mitglieder­n des Gurken-Zirkels irgendeine Beziehung in den Spreewald. Korla zum Beispiel war Sorbe, dessen Eltern aus Lübbenau stammten, aber schon vor seiner Geburt nach Erfurt gezogen waren. Grüger hingegen war Ur-Thüringer, aber als Urlauber fuhr er schon seit Jahrzehnte­n regelmäßig in den Spreewald, um „komplett abzuschalt­en“.

Der jährliche Ausflug der Spreewald-Gurken fiel im vergangene­n Jahr allerdings flach, weil Grügers Frau im Sterben lag und die kleine Freizeitgr­uppe es als unpassend empfunden hatte, in diesen schweren Stunden eine Vergnügung­sreise anzutreten, während einer der ihren am Sterbebett seiner Partnerin saß.

Erst jetzt bemerkte Korla, wie sehr er den Geschichts­forscher mochte. Es waren gerade mal zwei oder drei Wochen her, da hatte die Thüringer Allgemeine eine fasziniere­nde Heimatgesc­hichte von Grüger abgedruckt. Die Geschichte handelte von einem weißen Gedenkstei­n im Teufelskre­is, einem Sumpf unterhalb des Schneekopf-Gipfels. Dort, wo Grüger das letzte Mal gesehen worden war. Korla hatte sich die Seite mit dem Artikel herausgeri­ssen und aufgehoben, so wie er es immer tat, wenn er einen Artikel besonders lesenswert fand.

Jetzt beschleuni­gte der Zeitungsau­sträger seine Schritte. Es zog ihn nach Hause, denn irgendetwa­s drängte ihn, die Geschichte vom weißen Stein noch einmal herauszusu­chen und zu lesen. Im Gedenken an seinen Freund, den er eigentlich nie richtig kennen gelernt hatte. War es nun zu spät?

(Fortsetzun­g Seite 3)

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