Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Diese Tipps können helfen, einen Angreifer in die Flucht zu schlagen
Jena. 17 Augenpaare schauen interessiert zu, als mir starke Männerhände von hinten an die Kehle greifen und fest zudrücken. Niemand reagiert.
Vor lauter Panik bleibt mir für kurze Zeit die Luft weg und meine Augen suchen verzweifelt nach Dingen, mit denen ich meinen Angreifer von mir abbringen könnte. Ich werde fündig und ramme dem Mann in Schwarz mit voller Wucht meinen Ellenbogen in die Seite. Dann löse ich mich aus der Umklammerung und beginne, den Mann zu treten – und mir ist ganz egal wo meine Tritte landen. Meinen Widersacher schlagend zu Boden ringend, frage ich mich, ob ich auch alles richtig mache. Aber wie ist es dazu gekommen?
Alles begann ganz harmlos und laut mit einem Kampfschrei im Selbstverteidigungskurs der Budosport- und Kampfkunstschule in Jena. Mit mir sind es insgesamt 17 Mädchen und Frauen, im Alter zwischen zehn und 55 Jahren, die hier lernen wollen, wie man sich im Ernstfall gegen einen Angreifer wehren kann.
„Ich weiß nicht, woran es liegt“, sagt der Selbstverteidigungslehrer Tom Wenig nach unserem ersten gemeinsamen Schrei. „Aber Frauen ist es fast immer peinlich, laut zu schreien.“Ich bin überrascht und gleichermaßen entsetzt von mir selbst. Mir scheint es tatsächlich unangenehm zu sein, einem Fremden gegenüberzustehen und ihn anzuschreien.
Das kann und will ich nicht auf mir sitzen lassen und lege in meinen nächsten Schrei noch mehr Kraft und Stimme. Meine Mitstreiterinnen scheinen es mir gleichzutun und die wohl aus Schmerz zusammengekniffenen Augen unseres Lehrers geben „64 Prozent der Angreifer lassen von ihrem Vorhaben ab, wenn sich ihr Opfer leicht wehrt. Bei starker Gegenwehr sind es 87 Prozent“, erklärt der Selbstverteidigungslehrer Tom Wenig. Dafür ist nicht immer Gewalt nötig.
▶ Ein lauter Schrei kann einen Angreifer verunsichern und überraschen. Die erreichte Schreckenssekunde sollte man nutzen, um zu fliehen. ▶
Laut schreien: Menschen direkt um Hilfe bitten:
Um Hilfe oder Feuer mir mehr Genugtuung als ich erwartet hätte. „Schreien ist wichtig. Es ist die erste Waffe, die ihr benutzen könnt“, trichtert er uns ein. Mit einem kräftigen und gemeinsam geschrienen „Kihap“– einem Kampfschrei – gehen wir über zur nächsten Übung.
Aha, jetzt wird es körperlich, denke ich mir, als Tom nach meinem Handgelenk greift und mich auffordert mich zu befreien. Es zwiebelt und tut ziemlich weh, als ich das Gelernte anwende und mein Handgelenk mit einer schnellen Bewegung zu rufen, bringt in den meisten Fällen nichts. Am besten ist es, Menschen direkt anzusprechen. Zum Beispiel: „Sie da im karierten Hemd. Helfen Sie mir“.
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Am besten mit beiden Händen auf beide Ohren des Gegners hauen. Durch den dadurch entstandenen Druck bringt man den Angreifer für kurze Zeit aus dem Gleichgewicht.
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Auf die Ohren schlagen: Nervendruckpunkte drücken:
aus dem Griff herausdrehe. Nach kürzester Zeit sind meine beiden Handgelenke knallrot und ich erkenne schon deutlich die ersten Blutergüsse. Aber das ist mir egal und ich freue mich wie ein Kind, dass es nach dem zehnten Mal fast wie von selbst klappt, ohne dass ich viel darüber nachdenken muss. Umso mehr denke ich über meine nächste Aufgabe nach. „Los schlag zu“, fordert mich Kampfkunstlehrer Axel Schulze auf und hält mir einen dunkelgrauen Plastikkopf vor die Nase. Auf ein Schlagkissen einzuschlagen aus der Achselhöhle über die Innenseite des Oberarms. Ein Schlag oder fester Druck auf diesen Punkt kann den Gegner in die Knie zwingen.
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Tritte gegen das Schienbein:
Man sollte sich nicht nur auf die obere Körperhälfte konzentrieren, sondern auch die Beine benutzen.
▶ In der Selbstverteidigung gibt es keine Regel. Auch kratzen und an den Haaren ziehen kann helfen.
Ohne Regeln:
scheint mir auf einmal viel verlockender zu sein. „Das ist auch so ein Phänomen“, holt mich der Schwarzgurt aus meinem Gedankenspiel. „Sobald ich den Plastikkopf hole, schlagen alle nur noch mit halber Kraft zu.“Er gibt zu bedenken, dass gerade das Gesicht viele Möglichkeiten bietet, seinen Feind unschädlich zu machen. Mit mehreren Schlägen auf die Plastik-ohren des Schädels versuche ich, meinen potenziellen Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auch der Schlag auf die Puppennase sitzt. Der menschliche Körper besitzt etwa Nervendruckpunkte. Mit gezielten Fingerstößen auf diese kann ein Gegner für kurze Zeit außer Gefecht gesetzt werden. Im Bild wird der Mittelarmnerv gedrückt. Ich fühle mich einfach großartig und ein kleiner Teil in mir glaubt sogar jetzt unbesiegbar zu sein. Doch was ist das? Mit nur drei Fingern bringt mich der Kampfkunstlehrer wieder zurück auf den Boden der Tatsachen, beziehungsweise auf die blauen Schaumstoffmatten. „Das war die Nervendrucktechnik“, antwortet er auf meinen verwirrten und fragenden Blick. „Mit dieser Technik kann man jemandem große Schmerzen zufügen, ohne ihm auf die Nase hauen zu müssen.“
Vor Begeisterung fehlen mir die Worte. Irgendwie kann ich ihm dann aber doch vermitteln, dass ich das ganz unbedingt auch können möchte. „Der menschliche Körper besitzt etwa 360 Nervendruckpunkte. Diese können mit gezielten Fingerstößen den Gegner für kurze Zeit außer Gefecht setzen“. Er zeigt uns einige dieser Punkte. Einer liegt in der Armbeuge und kann den Gegner sogar in die Knie zwingen. Der nächste sitzt zwischen Schlüsselbein und Brustmuskel. Wiederum zwei andere befinden sich in der Nacken- und Rückenregion. Und zwei, der meiner Meinung nach Gemeinsten, sitzen genau unter der Nase und bei der Halsschlagader.
Und dann ist es soweit, der Moment, auf den wir alle gewartet und seit mehreren Stunden hin trainiert haben, ist gekommen. Der Ausbilder Tom Wenig wird in einen aus 16 Teilen bestehenden Vollschutzanzug gesteckt. Mit einem festen Tritt gegen die gepolsterte Brust von Tom erklärt Axel Schulze „die Spiele für eröffnet“.
Und da stehe ich nun. Mit dem Rücken zum gepolsterten Ungetüm und meinem Herzen in der Hose. Ich weiß, was passieren wird. Ich weiß nur nicht, wann er mich angreifen wird. So, wie es auch in der Realität passieren kann. Als meine Anspannung ins Unermessliche zu steigen droht, packen mich die in Handschuhe verpackten Hände an der Kehle und ziehen mich fort. Das Gesicht zu einer Faust geballt, rufe ich alles ab, was ich in den letzten vier Stunden gelernt habe. „Das war gar nicht schlecht“, sagt Axel Schulze. „Aber du hast gezögert und wo war dein Schrei?“„Mist“, denke ich mir. Und versuche ihm zu vermitteln, dass ich eher eine stille Kämpferin sei. So überzeugend, dass ich es fast selbst geglaubt hätte. Selbstverteidigung kennt keine Regeln. Es gibt hier kein richtig oder falsch. Wer sich wehrt, kann einen Angreifer in die Flucht schlagen. Und wer ihn dann noch anschreit, kann ihn zusätzlich noch erschrecken.