Thüringer Allgemeine (Sondershausen)
Grippewelle: Experten streiten über Sinn der Impfungen
Wissenschaftler bezweifelt Wirksamkeit bei den über 60-Jährigen, Robert-koch-institut widerspricht. 17 Tote in Thüringen
Erfurt. Die heftige Grippewelle löst einen neuen Impfstreit unter Experten aus. So kritisierte der Apotheker und Gesundheitsforscher Gerd Glaeske, der auch Mitglied der Impfgruppe der Stiftung Warentest ist, in einer Fernsehsendung, die Begründbarkeit der Impfungen sei äußerst dünn.
Gegenüber der Thüringer Allgemeinen bekräftigt Glaeske: „Die Impfempfehlung für alle über 60-Jährigen sehe ich kritisch, sofern sie die Gesunden betrifft. Hier ist die Wirksamkeit nicht nachweisbar, das belegen amerikanische Studien. Bei den Jüngeren liegt sie bei 20 Prozent, würden sie mehr geimpft ließe sich eher eine Immunisierung erreichen.“Risikogruppen wie Lungenkranke oder Menschen mit Immunschwäche sollten aber immer geimpft werden.
Der Arzt und Autor Dietrich Grönemeyer sagte bei einem Gesundheitsforum in Bad Langensalza, er lasse sich zwar impfen, könne aber auch die Impfskeptiker verstehen. „Wir haben medizinische Möglichkeiten, die sollten wir nutzen. Es muss aber die eigene Entscheidung sein.“
Susanne Glasmacher, Sprecherin des Robert-koch-institutes und der Ständigen Impfkommission (Stiko), die die Grippeimpfung für über 60-Jährige ausdrücklich empfiehlt, räumt deren begrenzte Wirksamkeit ein. Von einer Wirkung gleich null könne jedoch keine Rede sein. „Eine Analyse von Patientenproben ergab eine Impfeffektivität des saisonalen Impfstoffes von 46 Prozent über alle Altersgruppen hinweg, bei den über 60-Jährigen sind es 36 Prozent“, sagt Glasmacher. Das deute zwar auf eine abnehmende Wirkung im Altern hin. Eine Impfung verringere aber die Grippe-wahrscheinlichkeit.
Die verbreitete Annahme, dass der kritisierte Dreifachimpfstoff ursächlich sein könnte für die Grippewelle, weist Glasmacher zurück. „Wegen der geringen Nachfrage stellen die Hersteller nur für 20 Prozent der Bevölkerung Impfstoffe zur Verfügung. Bei knapp 50 Prozent Wirksamkeit ergibt sich eine Schutzquote von 10 Prozent. Das hat kaum Einfluss auf den Grippeverlauf“, so die Expertin.
Laut AOK ist eher die Impfmüdigkeit Ursache für die Heftigkeit der Grippewelle. „Über 90 Prozent der Erkrankten waren nicht geimpft und jünger als 60 Jahre. Ein grundsätzlicher Impfappell für Jüngere wäre hilfreich gewesen“, sagt Aok-vertreterin Ute-barbara Friedrich.
Laut Barmer wirkt die Grippe je nach Grippe-typ, Saison und Alter unterschiedlich, 100-prozentigen Schutz gebe es nicht. „Tritt die Grippe bei einer geimpften Person dennoch auf, fällt sie in jedem Fall schwächer aus. Auf jeden Fall wirkt sie, wenn man gar nicht geimpft ist“, sagt Sprecher Robert Büssow.
Die Zahl der Grippe-neuerkrankungen blieb in der zweiten Märzwoche mit 2700 Fällen hoch, war aber rückläufig. Seit November erkrankten in Thüringen 14 000 Menschen, die Zahl der Grippetoten stieg auf 17, so viele wie seit Jahren nicht. Bundesweit gibt es 270 000 Influenza-fälle und 751 Tote.
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