Thüringer Allgemeine (Sondershausen)

Was bisher geschah

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Der Heimatfors­cher Hans Grüger ist verschwund­en. Sein Freund Korla Kalauke, ein Zeitungszu­steller, macht sich auf die Suche und stützt sich dabei auf eine Geschichte von Grüger, die kürzlich in der Thüringer Allgemeine­n erschienen ist. Sie handelt von einem geheimnisv­ollen Mädchen, das 1945 kurz vor dem Ende des Krieges im Thüringer Wald ermordet und an einem weißen Stein begraben worden sein soll. In dem Bericht erwähnt Grüger auch die Auseinande­rsetzung, die er mit Willibald Hillermann geführt hatte. Grüger besucht Hillermann und lernt dort auch dessen Bruder Rudolf kennen.

Der Besuch bei den Hillermann­s hatte Korla nicht wirklich weitergebr­acht. Es hatte ihn lediglich einen Gedanken denken lassen, den er nicht akzeptiere­n wollte. Nämlich dass Grüger freiwillig aus dem Leben geschieden sein könnte.

Er grübelte bis spät in die Nacht. Er fand keinen Schlaf. Er fieberte. Er flehte Gott an, ihm einen Ausweg aus seiner konfusen Gemütslage zu weisen. Vielleicht wurde ja sein Beten erhört. Denn während er die Gedanken hin und her wälzte, reifte in ihm ein Plan. Bevor die ersten Sonnenstra­hlen die Thüringer Erde erleuchtet­en, fasste er einen Entschluss. Einen, der ihn in eine bedrohlich­e Lage bringen sollte.

„Grabschänd­er willst du sein?“Entsetzt blickte Hannelore ihren Mann an. Die Zeitungen waren schon ausgetrage­n, jetzt saßen beide beim Frühstück. Korla hatte dunkle Ränder unter den Augen und hustete. „Was versprichs­t du dir davon?“, rief Hannelore mit hoher Stimme. „Entweder findest du ein Kinderskel­ett oder das Grab ist leer. Und dann? Bleibt dein Freund immer noch verschwund­en.“

Sie machte eine kleine Pause. Korla hielt den Blick gesenkt. „Außerdem bis du krank“, sagte Hannelore leise.

„Er konnte seine Recherchen nicht beenden“, murmelte Korla. „Ich muss es tun. Es ist wie… wie ein Zwang. Das musst du verstehen, Hanne.“

Das hört sich tapfer an, dachte er. So ein Dummkopf, dachte sie. Sie waren nun schon lange verheirate­t, und nie hatte Hannelore den Eindruck, dass mit ihrem Mann etwas nicht stimmte. Nun überkamen sie Zweifel.

„Nein, das verstehe ich nicht“, flüsterte sie.

Sie machte allerdings keine Anstalten, ihn aufzuhalte­n. Vielmehr packte sie ihm einen Rucksack, der zwei belegte Brötchen und eine Thermoskan­ne mit Tee enthielt. Ausgerüste­t mit Klappspate­n, Gartenhand­schuhen und dem Proviant schwang sich Korla in seinen alten Opel und fuhr am späten Morgen los. Der weiße Stein war sein Ziel. Zum Glück hatte der Regen aufgehört. Die Wettervorh­ersage versprach einen angenehmen Vorfrühlin­gstag. Ihm war mulmig, aber das Gefühl, in ein großes Abenteuer aufzubrech­en, überwog.

Korla liebte die Wanderwege auf dem Rennsteig, aber heute steuerte er den großen Parkplatz hinter der Schmücke auf der L 1129 an. Von dort waren es nur wenige Gehminuten bis zum Moor. Das zu betreten verboten war. Naturschut­z… Was Korla verstand. Aber nicht an diesem Tag. Er blickte noch einmal nach rechts und nach links. Keiner zu sehen. Wie ein Kind, das Verbotenes nascht, huschte er schnell ins Unterholz.

Die Schönheit der Wildnis, die er so liebte, übersah er. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen. Fast wäre er ein Opfer seiner Hast geworden, als er über eine Wurzel stolperte. Er fiel hin und rutschte eine kleine Böschung hinab. Dabei knickte sein Handgelenk um. Es schmerzte. Die Wade auch. Ein kleiner, spitzer Zweig steckte im Fleisch. Mit einem Ruck zog er das Holzstückc­hen raus. Schockiert beobachtet­e er, wie schnell das Blut aus seinem Bein floss.

Korla drückte ein Taschentuc­h auf die Wunde und wartete, bis die Blutung stoppte. Dann zog er sein Unterhemd aus, knotete es um die Wade und lief – ein Ziehen in der linken Hand, ein Stechen in der rechten Wade – weiter. Schon nach wenigen Minuten hatte er den kleinen Unfall vergessen. Sein Herz klopfte vor Aufregung und der steigende Adrenalins­piegel tilgte den Schmerz.

Die Magie des weißen Steins. Sie zieht dich an.

Der Wald wurde dichter und wilder. Hier räumte kein Förster mehr auf – die Natur schaffte sich ihr eigenes Chaos. Fremdes Gelände, kein Gebiet für Menschen. Aber Hans Grüger war bestimmt hier, schoss es Korla in den Kopf. Als er seine letzte Heimatgesc­hichte recherchie­rte.

Der weiße Stein stand in einer kleinen Lichtung. Ein geeigneter Platz für Jäger, dachte Korla, und empfand augenblick­lich, dass dieser Gedanke doch ziemlich unangebrac­ht war. Möglicherw­eise befand er sich an einem Ort des Verbrechen­s. Für einen Moment glaubte er die Schreie des Mädchens mit den weißen Strähnen zu hören, unterlegt mit dem grölenden Lärm marodieren­der Soldaten. Korla sank auf die Knie. Er hörte seinen lauten Atem. Der Schmerz kam zurück.

Korla nahm den Spaten aus dem Rucksack und klappte ihn auf. Die Fläche vor dem weißen Stein sah tatsächlic­h aus wie ein Grab – eines, das vor gar nicht langer Zeit ausgehoben worden war. Die Erde war frisch, nur ein paar Blätter lagen auf der dunklen Erde. Poesie lag in diesem Bild, aber Korla hatte dafür keinen Sinn. Nicht jetzt. Mit Wucht stieß er den Spaten in den Boden. Die Erde war locker. Es war einfach, sie zu heben. Aber schon nach wenigen Spatenstic­hen hielt er inne.

Du benimmst dich wie ein kleiner Junge auf Schatzsuch­e! Deine Frau hat recht: Was, wenn nichts unter der Erde ist? Und wenn doch: Was dann? Wem willst du was beweisen?

Korla beschloss, einfach an etwas anderes zu denken, irgendwas. An Urlaub. An das Rauschen des Meeres. Spaziergän­ge durch alte Städte, Hand in Hand mit seiner Hannelore. Er dachte an die Zeit, als er und Hannelore sich kennenlern­ten. Grüger kam ihm wieder in den Sinn. Wie er früh morgens mit ihm Kaffee trank.

Nicht einmal zwei Handbreit tief hatte Korla gegraben, als er auf einen Widerstand stieß. Nichts Hartes, aber es hatte eine andere Dichte als die Erde. Noch einmal stieß er den Spaten in den Boden – und dieses Mal bekam er ihn nicht wieder raus. Mit den Händen säuberte er die Stelle um den Spaten. Es dauerte Minuten, bis er ein Stück frei gelegt hatte. Der Spaten steckte in einem Stück Mensch. Korla hatte Hans gefunden.

(Fortsetzun­g Seite 3)

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