Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
Das Schweigen
Hier haben sie gestanden. Die Fenster ringsum geben die Sicht frei auf das weite Areal. Sie werden sich gelangweilt haben und warteten auf das Ende des Dienstes. Dabei, sie hatten den leichteren Teil. Hier oben war es warm und ruhig. Sie mussten die Ankommenden nicht aus den Waggons prügeln, sie mussten nicht an der Rampe warten, bis die Zuständigen entschieden hatten, welchen Weg sie die Menschen schickten. Sie mussten die Neuen nicht begleiten, nicht in das Lager, nicht in das Gas. Sie standen einfach hier oben und warteten auf das Ende des Dienstes.
Der Turm über diesem Tor ist der fremdeste Ort hier. Durch dieses Tor fuhren die Züge und sie verließen, nachdem sie es passiert hatten, endgültig die Welt, wie sie war bisher. Und oben, über den Zügen, standen die Wachen und schauten zu. Ein Tag wie jeder andere.
Wer da oben steht, auf diesem Turm, wo die Führung durch Auschwitz-birkenau beginnt, der hat einen Blick, den er nicht mehr los wird. Es ist der Blick der Mörder. Hierher kam nie ein Häftling, hier standen deutsche Männer und blickten über das weite Areal. Hier, nur hier, sahen sie alles. Sahen, was vordem nie ein Mensch gesehen hatte, weil es so etwas noch nie gab. Einen Betrieb, der Asche produzierte, Menschenasche.
Zäune, soweit das Auge reicht, Zäune und Baracken. Sie brauchten viel Platz, sie hatten viel vor. Die Ausrottung eines Volkes. Und sie taten das gewissenhaft und gründlich, sie taten es mit Eigenschaften, die der Welt als deutsche Tugenden galten: Präzision, Organisation und der Fähigkeit deutscher Ingenieure.
Auch Erfurter Ingenieure. Der Erinnerungsort „Topf und Söhne“hatte in dieser Woche eine Ausstellung in Auschwitz eröffnet, eine Ausstellung über den Beitrag dieses Erfurter Betriebes zum reibungslosen, effizienten Ablauf des Völkermordes. „Wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng“. Das Massengrab in den Lüften, es wurde in Erfurt entwickelt. Der Rauch, der über dem Lager stand, der Geruch, der alles überwölbte, das kam aus Kadaver-öfen aus der Blumenstadt. Es ist das eine, diesen Erinnerungsort in Erfurt zu sehen. Es ist ein anderes, den Ort zu sehen, an dem seine Erzeugnisse arbeiteten.
Es sind die Schienen. Sie laufen auf das Lager zu, verengen sich zu einem Gleis, das das Tor unterquert und an die Rampe führt. Die Schienen verbanden diese Rampe mit der ganzen Welt, die der deutschen Wehrmacht zugänglich war. Und die Lokomotiven wurden gefahren von Menschen, die früher Nahrungsmittel und Maschinen zu ihrem Bestimmungsort gebracht hatten, von Menschen, die vordem ihre Passagiere zur Arbeit gefahren hatten oder Familien in den Urlaub. Normale Menschen, die normale Passagiere transportiert hatten aus normalen Gründen. Jetzt fuhren sie Juden in Viehwaggons zum Vergasen wie Ungeziefer, zum Verbrennen wie Kadaver. Diese Schienen, diese Rampe, sie gehören zum visuellen Gedächtnis der Menschheit. Es ist nicht nur, damit es sich so nicht wiederholt, diese Gefahr scheint so groß nicht. Es ist, damit jede Ideologie, die auch nur im Ansatz, in Aspekten auf diesen Wahn zurückgreifen, die ihn relativieren will, daran gemessen wird. Und es ist auch und vor allem, damit diesen Toten, die sich dort oben in den Lüften als Rauch verbanden und hier unten als Berge von Asche, damit diesen Toten ein Kaddisch gesagt wird von denen, die das noch können. Von denen, die trotzdem Gedichte schreiben und Kinder zeugen und Witze machen. Das soll so sein, das muss so sein. Aber auch sein muss ein Erinnern, wenn jemand sagt: Auschwitz. Und, wenn sie hier stehen: Ein Schweigen.
Solches Erinnern ist immer gefährdet als politisch-moralisches Ritual, doch Menschen benötigen Rituale, als Individuen wie als Gemeinschaften. Im Ritual vergewissern sich die Lebenden ihrer selbst, und das kann eine sehr notwendige Aufgabe sein. Dazu gehört die Holocaust-forschung in all ihren Aspekten, dazu gehört auch eine Ausstellung, wie sie der Erfurter Erinnerungsort jetzt in Auschwitz zeigt. Aber letztlich bewegt sich jegliches Erinnern, gerade an einem solchen Ort, in emotionalen Grauzonen. Primo Levi sprach von solchen Grauzonen des Menschlichen.
Die Gaskammern in Auschwitz-birkenau sind nur noch Ruinen. Es ist, als habe eine höhere Macht die Nachgeborenen daran hindern wollen, sich dem historischen Grusel hinzugeben, dem trügerischen Gefühl, man wisse, was das war, weil man dort war, danach. Denn wirklich verstehen, was das war, kann wohl nur, wer den Rauch spürte in der Lunge und die Asche auf der Haut und die Angst, morgen selbst Rauch zu sein und Asche. Den Übrigen bleibt wenig mehr, als zu erinnern, mit dem Hut in der Hand.
Henryk Goldberg ist Publizist und schreibt jeden Montag seine Kolumne