Thüringer Allgemeine (Weimar)

Das Leben ist zu schön zum Sterben

Seit fünf Jahren leidet die Textilgest­alterin Ulrike Drasdo (65) an einer unheilbare­n Krankheit. Ein Gespräch über den Tod

- Von Christina Onnasch

Hohenfelde­n.

An der Haustür empfangen einen Wärme und Herzlichke­it. „Kommen Sie rein!“, ruft Ulrike Drasdo. Ein Händedruck. Das Leuchten in ihren Augen. Sie sieht aus, als ob ein kurzer Windstoß genügen würde, um sie einfach davonzuweh­en: „Meine körperlich­e Kraft reicht nicht mehr lange, aber ich habe noch so viel Lebensener­gie.“Wir wollen über das Sterben sprechen, über ihr Sterben.

Über so etwas sollte man an einem sehr persönlich­en Ort reden. Und welcher könnte das eher sein als ihr Haus in Hohenfelde­n, das seit 22 Jahren mehr als eine Lebens- und Arbeitsstä­tte ist? Es liegt am Ende des Dorfes, dort, wo die Geborgenhe­it wohnt. Die Fenster gehen zum Himmel, zum Wald und auf die Felder, die Haustür geht auf die Dorfstraße, also zur Welt. So möchte man leben, denkt man. Sterben auch? Ja, Ulrike Drasdo möchte hier auch sterben.

Ulrike Drasdo ist unheilbar krank, sie hat Leukämie im Endstadium. Gemessen an der hohen Zahl der Leukozyten, der weißen Blutkörper­chen, die ihr Körper in sich trägt, dürfte sie eigentlich nicht mehr leben. Die Rede müsste auch sein von den Nebenwirku­ngen der Chemothera­pien. Davon, dass der Körper in seiner fortschrei­tenden Hinfälligk­eit über den klaren Geist triumphier­en will. Das wäre alles richtig – und auch wieder nicht.

„Am Anfang dieses Jahres habe ich mir gewünscht, dass ich noch ein Jahr lebe.“Ein Jahr. Das würde bedeuten: Zum letzten Mal Sommertage an der Ostsee bei Ahrenshoop. Ein letztes Mal im Winter auf die Insel Usedom nach Swinemünde. Zum letzten Mal einen Vortrag über Nepal oder das Königreich Mustang halten. Die letzten Akten, Fotos, Papiere ordnen. Alles: ein letztes Mal.

Das betrifft auch Ulrike Drasdos Arbeit. Sie ist Textilgest­alterin. In den beiden Webstühlen, die im Erdgeschos­s des Hauses stehen, sind angefangen­e Arbeiten eingespann­t. Sie deutet dorthin: „Ja, das ist eigentlich alles viel zu schön zum Sterben.“Früher arbeitete sie an sieben Webstühlen. Ihre wundervoll farbig leuchtende­n Wandbehäng­e und Teppiche hängen in öffentlich­en Gebäuden, Kirchen, Museen, in Wohnungen, im In- wie im Ausland. Inzwischen schafft es Ulrike Drasdo nur noch, eine halbe Stunde am Tag zu weben, mehr erlaubt der Körper nicht. Über ihren „letzten Auftrag“mag sie nichts sagen. Das Reden über das Schwere macht Ulrike Drasdo anderen Menschen leicht. Vielleicht liegt es daran, dass sie ihr Gegenüber nicht im Unklaren über ihre Situation lässt; sie ist offen, ohne den anderen damit zu erdrücken. Sie bittet um Hilfe, wo sie nötig ist: Bücken kann sie sich nicht mehr. Mal schnell aus dem Raum gehen, um etwas zu holen, ist beschwerli­ch. Der andere hilft gern und traut sich zu fragen. So wird Nähe möglich. „Ich hatte ein sehr anstrengen­des, aber auch ein aufregende­s und schönes Leben“, sagt sie. 65 ist Ulrike Drasdo jetzt.

Fünf Jahre ist es her, dass der Tod in Ulrike Drasdos Leben trat. Sie war gerade dabei, ihre sechste Reise, eine Exkursion ins Himalaya-gebiet, zu planen. „Da muss man vorbereite­t sein, schließlic­h wollte ich mich auch in den Bergen auf fünftausen­d Metern Höhe bewegen.“Also rannte sie den Fliegerber­g bei Hohenfelde­n hinauf und hinunter. Oder sie erklomm den Riechheime­r Berg per Fahrrad. Immer wieder. „Ich spürte, dass ich nicht mehr so gut wie früher trainieren konnte, meine Muskeln brannten.“Bei Untersuchu­ngen im Krankenhau­s stellte sich heraus, dass sie auffallend viele Leukozyten im Blut hat. Die Milz war vergrößert. Termine bei Ärzten, die Leukämie feststelle­n, folgten. „Die Diagnose Krebs ist für jeden Menschen der Hammer“, sagt Ulrike Drasdo. Die Nepal-reise war erledigt. Vorerst.

Für die Zeit, die ihr noch bleibt, hat sich die Künstlerin vorgenomme­n, das Dasein in ihrem Haus zu genießen, ohne noch viel arbeiten zu müssen. Als die Ärzte vor knapp zwei Jahren sagten, dass sie ihr nun nicht mehr helfen könnten, begann sie, sich auf den Tod vorzuberei­ten. Sie sortierte Unterlagen, suchte einen Grabstein aus, ließ sich ein Pflegebett bauen, kümmerte sich um einen mobilen Palliativd­ienst für ihre letzten Tage und überlegte, wem sie das Haus übergeben könnte. Jetzt dauert es nicht mehr lange, dann ist alles geregelt.

Die Krankheit mutet ihr zunehmend mehr Einschränk­ungen zu: „Ich war immer froh über das, was geht, und nicht traurig über das, was nicht geht.“Länger als eine Stunde aufrecht auf einem Stuhl zu sitzen, das ist für Ulrike Drasdo eine höllische Anstrengun­g. Irgendwann fand sie einen Liegestuhl, der es ihr ermöglicht, mit dem Oberkörper fast in die Waagerecht­e zu kippen und die Beine erhöht zu lagern. So kann sie an längeren Gesprächen teilnehmen, Webkurse abhalten, einen Fasching mitfeiern und so die Leukämie ein bisschen überlisten. Im Mai 2013 geschah es, dass sich Ulrike Drasdos Traum von der weiten Reise doch erfüllte. Sie wollte in das Königreich Mustang, das nur 1000 Touristen im Jahr betreten dürfen. Die Chemothera­pien hatten sie soweit geschwächt, dass das Auftreten beschwerli­ch, an eine Wanderung durch das unwegsame Gelände nicht zu denken war. Auf einem Reiterhof lernte sie innerhalb eines Monats das Reiten und war kurz darauf auf einem Pferd in die Hauptstadt des Königreich­s Mustang, Lo Manthang, unterwegs. Davon und von ihren anderen Reisen nach Nepal erzählt sie bei ihren Vorträgen, die keine ellenlange­n landeskund­lichen Ausführung­en, sondern von Bildern, Musik und Gerüchen mitgebrach­ter Dinge angefüllt sind. Die Leidenscha­ft für Nepal und seine Menschen hat Ulrike Drasdo, seit sie im Jahr 2001 zum ersten Mal dort war, in konkrete Hilfe verwandelt. Mit Spenden, die sie bei ihren Vorträgen sammelt – insgesamt 40 000 Euro sind über die Jahre zusammenge­kommen – unterstütz­t sie eine Armenapoth­eke in Kathmandu und ein Projekt für Straßenkin­der, denen sie das Weben beibrachte. Dafür wie für ihre künstleris­chen Projekte mit Kindern bekam sie im vergangene­n Jahr den Thüringer Verdiensto­rden. Auch ihre Arbeit mit Flüchtling­sfrauen – die Künstlerin zeigte ihnen das Weben – wurde damit gewürdigt.

Stirbt man, wie man lebt? Ulrike Drasdo hat ein großes Herz und offene Sinne für andere Menschen. Ihre Mutter hat bis zu deren Tod hier gelebt, ihr Sohn ist hier aufgewachs­en. Die Haustür der Künstlerin stand immer weit offen. Sie erzählt von Festen mit vielen Freunden, schönen Gesprächen und Runden, die sie um ihren Küchentisc­h zum Essen versammelt hat. „Meine Freunde sind es, die mich tragen und begleiten.“Das hat sich mit der Krankheit nicht geändert. Es sind auch Freunde, die dazu beitragen, dass ein Buch über Ulrike Drasdo entsteht, mit Fotos und Texten. Der Titel: „Leben. Weben. Geben“.

Angst vor dem Tod hat Ulrike Drasdo nicht. Als ihre Mutter mit 92 nach einem Schlaganfa­ll halbseitig gelähmt war, konnte sie sie wegen eigener gesundheit­licher Probleme nicht zu Hause pflegen. Die Mutter kam in ein Heim. „Wir haben in dieser Zeit viel über den Tod geredet und ich war bei ihr, als sie starb.“So, wie Ulrike Drasdo ihre Dinge geordnet hat, hat sie auch über ihre Beerdigung nachgedach­t. Im Schatten der Kirche auf dem kleinen Friedhof von Hohenfelde­n will sie begraben werden. Von befreundet­en Musikern hat sie sich gewünscht, dass sie bei ihrer Trauerfeie­r Astor Piazzollas „Libertango“spielen, ein Stück wie das Leben – voller Freude und Traurigkei­t, Zweifel, Schmerz und Leidenscha­ft. „Dieser Tango ist so schön, wenn ich den höre, klappe ich den Sargdeckel wieder auf“, sagt Ulrike Drasdo und lacht.

Reden über das Schwere

Auf dem Pferd ins Königreich Mustang

 ??  ?? „Am Anfang dieses Jahres habe ich mir gewünscht, dass ich noch ein Jahr lebe“: Ulrike Drasdo vor ihrem Haus in Hohenfelde­n. Foto: Sascha Fromm
„Am Anfang dieses Jahres habe ich mir gewünscht, dass ich noch ein Jahr lebe“: Ulrike Drasdo vor ihrem Haus in Hohenfelde­n. Foto: Sascha Fromm

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