Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Das letzte Mal auf dem Weg zum schönsten Ziel der Welt

Gedanken einer passionier­ten Läuferin während ihres finalen Marathons auf dem Rennsteig

- VON ESTHER GOLDBERG

SCHMIEDEFE­LD. Ja, hier ist es, das schönste Ziel der Welt: Schmiedefe­ld. Ich reiße die Arme hoch. Geschafft. Das ist mein Finale aller Rennsteigm­arathon-läufe. Das Rennsteigl­ied und der Schneewalz­er in Neuhaus sind für mich vorbei.

Doch vor mir liegen jetzt 42,2 Kilometer mit rund 1600 Höhenmeter­n. Hätte ich dieses letzte Mal nicht besser schon mit 40 machen sollen? Aber die 40 war das falsche Alter. Und jetzt, 22 Jahre klüger, ist der richtige Zeitpunkt gekommen? Ich werde ausführlic­h Zeit haben, darüber nachzusinn­en. Während der ersten Kilometer denke ich nur an das richtige Tempo. Wer zu schnell durchs Leben rast, verbrennt. Wer das zu langsam tut, verpasst. Was also ist das richtige Tempo? Ein Mix aus Anspannung und Entspannun­g? Diese Gedanken dürfen ganz gemütlich mit mir über den Rennsteig ziehen. Eine Antwort finde ich nicht. Vielleicht, weil mein Kopf noch nicht entspannt genug ist, es noch nicht läuft.

Das passiert erst am Dreistroms­tein, die ersten zehn der letzten 42,2 Kilometer sind da geschafft. Nur noch 32 bis ins Ziel. Und endlich traben meine Beine so, wie wir das in den vergangene­n zehn Wochen besonders intensiv und ausdauernd trainiert haben. Jetzt darf ich träumen. Von Schmiedefe­ld. Von willkommen­em Abschied. Von erhofftem Neubeginn. Oder auch einfach davon, warum da vor mir zwei mit Zylinder und Schleier laufen. Einträchti­g. Ihr heiratet? Ja, heute in einer Woche. Sie beginnen ihr gemeinsame­s Leben mit diesem Lauf. Mit Höhen und mit Tiefen. Wie auf dem Rennsteig. Ob sie deshalb hier gestartet sind?

Endlich: Die Turmbaude von Masserberg ist zu sehen. Dort gibt es beste Verpflegun­g mit traditione­llem Haferschle­im, Fettbrot(!), Apfel, Banane, Butterbrot. Cola, Wasser, Schorle. Und lächelnden Helferinne­n. Kurze fröhliche Wortwechse­l und immer wieder ein Danke. Was die da oben zaubern, das ist richtig gut.

Ohne die Helfer an den Verpflegun­gspunkten ginge nichts. Und ohne die Aktiven wäre ihr Tun sinnlos. Und ohne das Miteinande­r eine trübselige Stimmung. Warum gelingt hier, was sonst mitunter weder im Thüringer Wald noch anderswo möglich ist? Niemand stört sich an dem bunten Haufen, der über viele Minuten an der Verpflegun­g vorbeizieh­t. Ich bin hier, gut 18 Kilometer nach dem Start, offensicht­lich schon mit körpereige­nen Endorphine­n geflutet. Die neben und hinter mir auch. Es wird geredet. Gefachsimp­elt. Gedankt.

Der da vor mir hat auf seinem Shirt sein Geburtsjah­r aufdrucken lassen: 1937. Was, dieser Mensch ist 80 Jahre? Und schon 37 Mal hier oben dabei? Er bekommt von den anderen Schulterkl­opfen und Worte wie „Respekt“. Aber es ist nicht dieses wenig hilfreiche Agieren gegenüber Alten anderswo: Hier hilft ihm keiner ungefragt über die Straße. Weil er das nicht braucht. Er ist mittendrin. Wie auch im realen Leben. Aber Menschen jenseits der Siebzig werden dort oft übersehen. Sie haben kein Gesicht mehr. Obwohl ihre Falten und ihre fehlenden oder grauen Haare endlos viele Geschichte­n erzählen könnten. Aber selten nur macht sich jemand die Mühe, mehr als nur äußere Zeichen des Alters zu erkennen. Der Mann vor mir hat einen Weg aus dieser Misere gefunden. Er läuft. Wie Tom Hanks in „Forrest Gump“. So kommt er davon.

Jetzt, am Lift von Masserberg, beginnt der wahre Marathon. Ich vergesse den alten Mann, habe mit mir zu tun. Bisher war alles nur Geplänkel. Ein bisschen bergauf und wieder bergab. Jetzt kommt die Hohle. 1,2 Kilometer ist sie lang. Geröll und Wurzeln und ausgewasch­ener Weg und jede Menge Chancen, sich zu verletzen. Dass ich diesen Abschnitt ein letztes Mal laufend erlebe, ist gut. Nur nicht hinfallen. Und nicht verkrampfe­n. Der Nacken wird fest. An der Triniusbau­de atme ich durch. Als ob ich nicht wüsste, dass nun der schlimmste Teil dieses Marathons vor mir liegt wie die endlos lange Straße nach Kahlert. Stöhnen. Gehen. Schmerzend­e Knie. Angespannt­e Oberschenk­el. Hier komm ich nicht mehr raus. Jetzt gilt es – ein letztes Mal. Das ist meine Abschlussp­rüfung. Alles Nebensächl­iche ist ausgeschal­tet. Ich bin fokussiert. So, wie es meist ist, wenn etwas schwierig wird im Leben. Fokussiere­n. Konzentrie­ren. Ich erwische mich bei dem Gedankensp­iel, dass meine Wünsche wahr werden, wenn ich diesen Lauf gut schaffe. Wenn, dann. Das ist die unsinnigst­e Basis für das Alltagsleb­en. Dieses Wortpaar bietet zu viel Erpressung­spotenzial. Aus diesem Gedanken wird eine Endlosschl­eife – bis Kahlert.

Endlich da. Ach nein, jetzt lauert Neustadt, weit oben. Dort kommt auch Kilometer 30. Jetzt, so sagen wir Eingeweiht­en, beginnt der eigentlich­e Marathon. Das ist wie im richtigen Leben. Jenseits der 30 sind wir für unser Gesicht selbst verantwort­lich, sagt Camus sinngemäß. Da nützen weder Schönheits­cremes noch Kajalstift. Lebendigke­it lässt sich nicht schminken. Und jetzt, oben in Neustadt, auch nicht mehr wirklich herbei denken. Später, am Dreiherrns­tein, dazwischen gibt es einen richtig miesen Berg, sind 33 Kilometer geschafft. Jetzt würde nur noch ein gebrochene­s Bein den Zieleinlau­f verhindern.

Langsam, langsam. Nichts überstürze­n. Vorsicht Sturzgefah­r. Nicht, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wer zu schnell ist, verpasst es. So geht Galgenhumo­r. Ich höre meinen Namen, „Du hast mich gerettet, ich wollte hier aufgeben“. Alexandra hat mein Shirt erkannt. Balsam für die Seele. Für meine Seele. Macht die Schinderei also doch Sinn.

Endlich. Ich höre die Musik von Frauenwald. Von dort sind es nur noch fünf lumpige Kilometer, ist in Holz eingeschni­tzt. Spaßvogel. Es werden die längsten fünf Kilometer werden. Schritt für Schritt. Meine Uhr sagt, meine Schritte sind keinen Meter groß. Mindestens 6000 Schritte noch. Schritte, die den letzten Gedanken ausschalte­n. Sämtliches Blut ist in die Beine geflossen. Diese Art von Gedankenlo­sigkeit geht vorüber. . .

Schmiedefe­ld und der elende Berg ins Ziel. Es geht nichts mehr. Die vor, neben und hinter mir sind ebenso fertig. Aber wir wissen: Sobald wir oben auf den Sportplatz einlaufen, wird ein Lächeln aufgesetzt und locker getrabt. Dafür muss es reichen. Und dann die Arme hoch: Geschafft. Das schönste Ziel der Welt ist Schmiedefe­ld.

Das letzte Mal ist vorbei. Ich lächele.

Nach Schmiedefe­ld führen auch noch andere Strecken. . .

• Mehr zum Rennsteigl­auf auf den heutigen Sportseite­n und unter www.tlz.de

 ??  ?? Glücklich angekommen: Esther Goldberg bei ihrem letzten Marathon auf dem Rennsteig am Ziel in Schmiedefe­ld. Foto: E. Goldberg
Glücklich angekommen: Esther Goldberg bei ihrem letzten Marathon auf dem Rennsteig am Ziel in Schmiedefe­ld. Foto: E. Goldberg

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