Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Selfies mit Pinsel, Bleistift und Acryl
Junge Künstlerinnen aus Thüringen üben auf einem Hof in Weitersdorf eine Woche lang die Kunst des Porträtzeichnens
WEITERSDORF. Das sogenannte Selfie genießt in Künstlerkreisen keinen guten Ruf. Denn die flüchtigen SmartphoneSchnappschüsse vom eigenen Grinsegesicht – wahlweise mit frisch servierter Restaurantbestellung oder altbekannter Touristenattraktion im Bildhintergrund – gleichen sich oft wie ein IPhone dem Anderen.
Sie finden daher auch eher selten den Weg in die Galerien. Doch Leonie Thomae feilt gerade an einem etwas anderen Selbstbild. Das Handy außer Reich- und Empfangsweite ist ihre Kameralinse ein alter Spiegel auf einem zersplitterten Holzrahmen und ihre Speicherkarte ein weißes Stück Papier.
Mit ruhigen Bleistiftstrichen überträgt sie die eigenen Gesichtszüge auf den leeren Untergrund. An einer Wäscheleine über ihrem Kopf hängen unzählige Scherenschnitte, Skizzen, fertige und halb fertige Variationen von Gesichtern. Links und Rechts von ihr bewegen sich fünf junge Künstlerinnen aus dem Umfeld der Kunstschule Imago in Erfurt ebenso konzentriert mit dem Stift zwischen Spiegel und Papier.
Ort der Muse ist der Hof von Kunstlehrerin Anne-Kathrein Maschke in Weitersdorf, ein Zehn-Seelen-Dorf vor den Toren der Stadt Rudolstadt. In der malerische Umgebung zwischen Kuhwiese und Dorfkapelle treffen sich in dieser Woche – auf Einladung der Hofbesitzerin – bereits zum 18. Mal Kinder und Jugendliche zu einem einwöchigen Kunstworkshop. „Es ist einfach riesig, mit den jungen Leuten hier ohne Stress, Handy und Ablenkung arbeiten zu können“, schwärmt sie.
„Goethe, Schiller oder Ich“, lautet das Motto in diesem Jahr. Denn Inspiration für die Projektwoche rund um das Porträtzeichnen holten sich die Mädels am Sonntag im Schloss Kochberg. Die Herzensfreundin der beiden Dichterfürsten, Charlotte von Stein, lebte einst hier. Zahlreiche Bildnisse der Hofdame zieren die Schlosswände.
„Die, die uns am besten gefielen, skizzierten wir ab. Als Anregung für die vor uns liegenden Tage“, erzählt Lucie Opel. Die meiste Zeit verbringen die Nachwuchskünstlerinnen im Garten, wohin es nach der Selfie-Übung auch zurück geht. Im Schatten der Bäume sitzen sie um einen riesigen Holztisch herum, der alles bereithält, was das Künstlerherz begehrt.
Viele Teilnehmer kennen sich bereits aus den vergangenen Jahren. Ein Glücksfall. Denn: „Ein gutes Porträt bringt den Charakter einer Person zum Ausdruck“, weiß Sophie Weiße. Und es ist treffender, als ein ewig gleich orchestriertes Grinse-Selfie.