Thüringische Landeszeitung (Gera)
Einkehr in die Kulturscheune
Lutz Görner rezitiert unermüdlich für alle, die es noch klassisch mögen
ULRICHSHALBEN. Seit Jahrzehnten trägt der Inbegriff der Rezitationskunst den Namen Lutz Görner, und seitdem haut der gebürtige Sachse dem Volk der Dichter und Denker seine Klassiker wonniglich um die Ohren – Schlachtruf „Lyrik für alle!“16 Jahre lang hat Görner sogar in Weimar – gleichsam in Rufweite der Dichtergräber – gewohnt; jetzt, da er die Musiker aus dem Umfeld Franz Liszts für sich entdeckt, kehrt er zurück und schenkt sich und dem Kulturgut Ulrichshalben (Weimarer Land) einen niveauvollen Abend. Die Vorpremiere des neuen Schumann-Programms geht nächste Woche Donnerstag über die Bühne.
Was für ein Wiedersehen! Nur ein wenig ist der Recke der deutschen Dichtung grauer geworden, er wirkt jedoch trotz seiner inzwischen 73 Lenze lebendig wie je – und prompt weckt sein so prononciert artikulierter Bassbariton die Erinnerung an so manches minutiöse Wunder der Vortragskunst: mit Goethe und Schiller und vielen anderen, die man ja auch leicht selbst hätte entdecken können. Warum er denn nur der Klassikstadt den Rücken gekehrt habe? – „Weil ich hier in Weimar und Umgebung keine Arbeit gefunden habe und immer in den Westen fahren musste!“ Rund 50 Auftritte pro Jahr bestreitet Lutz Görner noch immer. Inzwischen ist er aus strategischen Gründen nach Gummersbach ins Bergische Land gezogen, um Reisestrapazen zu mindern. Doch zur Vorpremiere in Ulrichshalben und zur Premiere im Schumannhaus Zwickau – beides Benefizabende zu Gunsten der Veranstalter – fährt er gerne gen Osten. Und das nicht allein: Auf Augenhöhe begleitet ihn Nadia Singer (27) am Flügel – „ein blonder Engel, der wie der Teufel spielt“laut O-Ton Görner. In Rostow am Don aufgewachsen, kam Singer dank des Klavierprofessors Grigory Gruzman nach Weimar, hat bei ihm studiert und strebt, mittlerweile in München zu Hause, dort noch dem Master-Examen entgegen. Längst aber hat sie – etwa mit einem Konzertwalzer-Programm – von sich hören gemacht.
Auf Umwegen haben die beiden einander kennengelernt. Görner benötigte Hilfe, als er von den Dichtern zu den Musikern überlief und den „Kosmos Liszt“– das für uns zentrale Musikgeschehen des 19. Jahrhunderts – mit der ihm eigenen Gründlichkeit aufzuarbeiten begann. In acht Programmen haben Singer und er die Lebenswege von Liszt, Wagner, Schubert, Chopin und anderen voller Em- pathie und Elan nachgezeichnet und jenseits der Live-Auftritte auf CD konserviert. Fehlen noch Brahms, Beethoven – und eben Robert Schumann. Ein schwieriger Fall, ein „kurzes und trauriges Leben“, wie der Rezitator zu Recht befindet. Görner liest aus den Tagebüchern des Komponisten, aus dem Ehetagebuch mit der zu ihrer Zeit viel berühmteren Pianistin Clara Wieck, aus Briefen und aus den Krankenakten der finalen Anstalt zu Endenich. „Ich mache ein Programm, bei dem mir keiner was wollen kann“, sagt Görner leise, „zu 95 Prozent aus Zitaten.“Verständlich, denn spürbar im Zentrum steht da die Geißel des 19. Jahrhunderts, die Syphilis. Schumann war wie naturgemäß viele andere Künstler-Zeitgenossen infiziert und endete grässlich an den Folgen der Krankheit in geistiger Stumpfheit.
Trotzdem feiert der musische Abend die Kunst und das Leben – vielleicht etwas melancholischer als sonst. Singer spielt Auszüge aus den „Davidsbündlertänzen“, den „Kreisleriana“- und „Carnaval“-Zyklen sowie aus der ersten Klaviersonate, und der britische Tenor Edward Leach trägt vertonte Heine-Lieder bei. „Lutz hat sehr schöne Musik ausgewählt“, lacht Singer schelmisch dazu. In der privat geführten Kulturscheune der Familie Roth in Ulrichshalben fühlen die zwei sich wie zu Hause.
Gern unterstützen sie solche Projekte. Indessen hat Klassik, so scheint’s, heute kaum noch Konjunktur. Lutz Görner erzählt, er trete im Schnitt vor 65 Zuhörern auf; der intime Rahmen passt ohnehin besser zu seiner Kunstform als die großen Säle. Darüber ist niemand verbittert. Und beiläufig, mit einem verständlichen Unterton des Triumphs, fügt er an, dass seine „Lyrik für alle“-Konserven es schon längst auf mehr als fünf Millionen You-Tube-Klicks gebracht haben. ● Donnerstag, . August, . Uhr; Mehr im Internet unter www.kulturgut-ulrichshalben.de; goerner-singer.de
„Ein blonder Engel, der wie der Teufel spielt“