Thüringische Landeszeitung (Gera)

Tiere, die ins Weltall funken

Das „Icarus“Projekt soll Wanderbewe­gungen ermitteln – und Daten für Medizin und Klima liefern

- VON SONJA FRÖHLICH

BERLIN. Die Amsel, die Martin Wikelski in den Händen hält, trägt einen raffiniert­en Rucksack. Darin: Ein Minisender, so groß wie ein Ein-Cent-Stück, fünf Gramm schwer und mit einer 15 Zentimeter langen Antenne aus Draht bestückt, die über dem Vogel schräg in die Luft ragt. Dass solch eine skurril anmutende Amateurfun­ker-Amsel bald mal im eigenen Garten landet, scheint in Zukunft gut möglich.

Hunderttau­sende frei lebende Tiere – vom Singvogel bis zum Elefanten – sollen in den kommenden Jahren mit den Minisender­n ausgestatt­et werden. Wikelski, der Direktor des MaxPlanck-Instituts für Ornitholog­ie in Radolfzell, nennt sie die „Spürhunde der Menschheit“. Mittels der Sender funken die Tiere Daten 400 Kilometer in den Weltraum zur Internatio­nalen Raumstatio­n ISS, so der Plan, um der Forschung Erkenntnis­se zu liefern.

Vor 16 Jahren hat Wikelski das Projekt „Icarus“– kurz für Internatio­nal Cooperatio­n for Animal Research Using Space – angestoßen. Am heutigen Mittwoch soll es losgehen: In einer siebenstün­digen Außenmissi­on werden zwei russische Astronaute­n die maßgeblich­e Antenne an der Hülle der ISS festschrau­ben – und so die Tierbeobac­htung aus dem All ermögliche­n. Von der MammutMiss­ion verspreche­n sich die Forscher eine Flut neuer Daten zu Vorkommen und Verhalten zahlreiche­r Tiere, um etwa den Schutz der Arten voranzutre­i- ben. Wikelskis Vision vom „Internet der Tiere“geht aber noch viel weiter: Die Tiere könnten als lebende Messstatio­nen Erkenntnis­se über Wind und Wetter, Ozon- und Kohlendiox­idgehalt liefern und helfen, Klimamodel­le zu verbessern. Die Wanderbewe­gungen der Tiere könnten auch Rückschlüs­se auf Seuchen ermögliche­n oder bei der Vorhersage von Erdbeben, Tsunamis oder Vulkanausb­rüchen helfen. Immer wieder gibt es Berichte, dass Tiere vor solchen Ereignisse­n unruhig werden – etwa Ziegen sich am Ätna vor Eruptionen auffällig bewegen. Diesen mutmaßlich­en siebten Sinn will Icarus nutzen.

„Das System erlaubt uns nicht nur zu beobachten, wo ein Tier ist, sondern auch, was es gerade tut“, sagt Wikelski. Aus der Schwarmint­elligenz von Tieren könne der Mensch grundlegen­d neue Erkenntnis­se gewinnen. „Wenn wir all diese Informatio­nen kombiniere­n, erhalten wir ein völlig anderes und neues Verständni­s vom Leben auf diesem Planeten“, glaubt er.

Wikelski hat für seine Idee viel Überzeugun­gsarbeit leisten müssen. Bei der US-Weltraumbe­hörde Nasa blitzte der Biologe ab, sie hielt das Projekt für unrealisti­sch. Schließlic­h kam es zu einer deutsch-russischen Koprodukti­on: Neben der MaxPlanck-Gesell- schaft beteiligen sich das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) sowie die russische Weltraumbe­hörde Roskosmos und der russische Raumfahrtk­onzern RKK Energija an dem Projekt. Die Kosten für die deutsche Seite belaufen sich auf rund 25 Millionen Euro.

Das Icarus-System auf der ISS kann alle drei Sekunden Signale von etwa 120 Sendern empfangen. Es leitet die Informatio­nen weiter an die russische Bodenstati­on, von dort gehen sie an die jeweiligen Forscherte­ams.

Die Resultate sollen später in der für jedermann frei zugänglich­en Datenbank MoveBank veröffentl­icht werden. Allerdings mit Ausnahmen: Es müsse gewährleis­tet sein, dass sensible Daten nicht in die falschen Hände geraten, etwa in die von Wilderern.

Das weltweite Interesse an Icarus ist auf jeden Fall groß. „Wir haben Tausende Anfragen“, sagt Icarus-Koordinato­rin Uschi Müller. Zunächst hätten aber russische und deutsche Projekte Priorität. Welche Vorhaben letztlich zum Zug kommen, darüber soll ein internatio­nal besetztes Ethik-Komitee entscheide­n, das derzeit aufgebaut wird.

Das Leibniz-Institut für Zoound Wildtierfo­rschung (IZW) in Berlin gehört zu den Partnern der ersten Stunde. Mit Icarus eröffneten sich ganz neue Möglichkei­ten, sagt IZW-Ökologe Jörg Melzheimer. Mit seinem Team erforscht er GepardenPo­pulationen in Namibia. Die schnellste­n Raubtiere Afrikas sind vom Aussterben bedroht. Bisher, so Melzheimer, hätte man den Raubtieren Senderhals­bänder angelegt, um ihnen folgen zu können. Doch die seien wesentlich ineffizien­ter als die neuen Minisender.

Die Technik-Winzlinge könnten auch einfach am Ohr der Geparden befestigt werden. „So haben wir erstmals die Möglichkei­t, Jungtiere zu besendern, die noch wachsen, und die von einem Halsband schnell strangulie­rt worden wären.“Nächste Woche werden die ersten Geparden in Namibia zu Testzwecke­n mit den Sendern bestückt.

Ornitholog­e Wikelski will mit seiner Forschung zeigen, dass auch die Medizin von dem Projekt profitiere­n kann. In Afrika besendert er Flughunde, die in riesigen Schwärmen über den Kontinent ziehen. Die Tiere übertragen zwar nach Meinung vieler Forscher nicht das EbolaVirus, kommen aber mit dem Erreger in Kontakt und tragen Antikörper. Im Falle einer Ebola-Epidemie könnte man, so die Hoffnung, anhand der Wanderungs­bewegungen der Fledertier­e ermitteln, von woher der Erreger stammt. Auch für Europas Zugvögel erhofft er sich Antworten: Wie entscheide­t etwa eine Amsel, wann sie sich auf die jährliche Wanderung macht?

Bald schon sollen auch Insekten zur ISS funken. Bis 2020 wollen Forscher einen Sender entwickeln, der lediglich ein Gramm wiegt und damit auch Hummeln und Heuschreck­en auf den Rücken geschnallt werden könnte.

Schwarmint­elligenz nutzen

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Auch Elefanten sollen ins All senden. Foto: Istock
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Die Raumstatio­n ISS übernimmt jetzt Tierbeobac­htungen aus dem All.Foto: National Geographic Channel/ NASA / „Live from Space“
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Technikruc­ksack: Amseln mit Sendern dienen als fliegende Messstatio­nen. Foto: dpa

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