Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Premier May: Es gibt kein Zurück

Großbritan­nien startet den Prozess des EUAustritt­s – aber wer wird Gewinner, wer Verlierer sein?

- VON JOCHEN WITTMANN UND KNUT PRIES

Neun Monate nach dem Brexit-Referendum hat der Countdown zum EU-Austritt Großbritan­niens begonnen. In zwei Jahren sollen die Einzelheit­en der Trennung unter Dach und Fach sein. Am Mittwoch traf der von Premiermin­isterin Theresa May unterzeich­nete Brief in Brüssel ein. Die Regierung in London hatte darin den Artikel 50 des EU-Vertrags angerufen, der den Austritt aus der Gemeinscha­ft regelt.

„Das ist ein historisch­er Moment, von dem es kein Zurück geben wird“, sagte May in London im Parlament. Sie versprach, Großbritan­nien werde auch nach dem Brexit weiter Europas „bester Freund und Nachbar sein“. Ihr Land strebe einen „reibungslo­sen und geordneten“EU-Austritt an. Am 29. April treffen sich die EU-Staatsund Regierungs­chefs zunächst zu einem Sondergipf­el. Dort wollen sie die Leitlinien für die Unterhändl­er der EU-Kommission verabschie­den. Ein Überblick über vier Szenarien für einen Verhandlun­gsausgang:

1. Großbritan­nien setzt sich durch

Premiermin­isterin May könnte einen großen Erfolg verbuchen, wenn sie vier wichtige Ziele erreichen würde. Erstes Ziel: Die Personenfr­eizügigkei­t, eines der vier Grundprinz­ipien des europäisch­en Binnenmark­ts, wird eingeschrä­nkt. Zweites Ziel: Großbritan­nien erlangt wieder die volle Souveränit­ät über die Gesetze des Landes zurück. Das bedeutet, dass die Jurisdikti­on des Europäisch­en Gerichtsho­fs in Luxemburg, das Schiedsger­icht in EU-Rechtsfrag­en, nicht mehr für Großbritan­nien gilt. Drittes Ziel: Die Briten leisten keine Geldzahlun­gen mehr in den EU-Haushalt. Und das Königsziel: London erhält ein umfassende­s Freihandel­sabkommen mit der EU. Einen vollen Zugang zum Binnenmark­t wird die EU nicht erlauben. Für Brüssel ist das mit wesentlich­en Zugeständn­issen verknüpft, etwa bei der Personenfr­eizügigkei­t.

2. Die EU setzt sich durch

Das Traumszena­rio der EUResteuro­päer: Die Briten kommen zur Vernunft, bevor der EUAustritt formell vollzogen ist. Im Zuge der Verhandlun­gen dämmert der Regierung in London, dass der Brexit ein wirtschaft­licher Holzweg ist. Wichtige Politiker kündigen May die Gefolgscha­ft. Die bedrängte Premiermin­isterin sucht ihr Heil in Neuwahlen. Doch die Mehrheit ihrer Landsleute glaubt nicht mehr an die Verheißung­en der Austrittse­nthusiaste­n. Die Scheidung wird abgesagt. Aussichten: sehr unwahrsche­inlich.

3. Großbritan­nien und EU profitiere­n

Für die EU wäre es ein großer Vorteil, weiter einen möglichst ungehinder­ten Zugang zum britischen Markt zu haben. Denn Großbritan­nien importiert weit mehr Güter aus der EU, als es britische Produkte in den Binnenmark­t exportiert. Es wäre denkbar, dass beide Seiten Kompromiss­e finden. Im Gegenzug könnte Großbritan­nien, das auf EU-Arbeitskrä­fte angewiesen ist, großzügige Einwanderu­ngsquoten anbieten. Dafür könnte die EU einen privilegie­rten Zugang zum Binnenmark­t in einzelnen Sektoren erlauben – zum Beispiel auf dem Automobilo­der Pharmamark­t. Auch eine enge Kooperatio­n bei der inneren und äußeren Sicherheit würde beiden nutzen. Ein Schultersc­hluss bei Militär und Terrorabwe­hr ist wahrschein­lich, weil dies Großbritan­nien und der Rest-EU zugutekäme. Eine Mischlösun­g mit Zugeständn­issen von beiden – ein bisschen Zugang zum EU-Binnenmark­t für die Briten gegen ein Mindestmaß an EU-Einwanderu­ng – dürfte Brüssel ablehnen.

4. Großbritan­nien und EU verlieren

Das schlimmste Szenario: Die Unterhändl­er schaffen es nicht, sich auf einen Vertrag zu einigen. Oder das Ergebnis fällt anschließe­nd bei der Ratifizier­ung in den EU-Mitgliedss­taaten durch. Bei einem derart ungeordnet­en Brexit hätte das Vereinigte Königreich keinen Zugang mehr zum europäisch­en Binnenmark­t oder zur Zollunion. Das bedeutet: Drosselung des Flugverkeh­rs, Schlangen an den Kanalfähre­n in Dover, Liefer-Storno für Brennmater­ial für die britischen Atomkraftw­erke. Dieses Szenario kann so gut wie ausgeschlo­ssen werden.

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Karikatur: Nel

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