Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Um die Schmerzthe­rapie gibt es mit den Kassen ständig Kampf

Dr. Johannes Lutz, Chefarzt an der Zentralkli­nik Bad Berka, ärgert sich über den Widerstand der Kostenträg­er gegen eine wirksame Behandlung

- VON SIBYLLE GÖBEL

Vielen Patienten mit chronische­n Schmerzen kann nur noch eine multimodal­e Therapie helfen – eine mehrwöchig­e, speziell auf sie zugeschnit­tene interdiszi­plinäre Behandlung. Dazu gehören zum Beispiel Entspannun­gstraining, Bewegung und – bei Bedarf – auch medikament­öse Begleitung.

Der Erfolg dieser Therapie ist unstrittig: Die Patienten, von denen nicht wenige zu Therapiebe­ginn schwer medikament­enabhängig sind, empfinden hinterher meist nicht nur weniger Schmerzen, sondern lernen, viel besser und oft auch ohne Medikament­e damit umzugehen. Auch ihre Lebensqual­ität steigt – und viele von ihnen können sogar ins Berufslebe­n zurückkehr­en.

Geschäftsf­ührung macht keinen Druck

Gleichwohl gibt es ständig Kampf mit den Krankenkas­sen um die Finanzieru­ng vor allem der vollstatio­nären multimodal­en Therapie: „Die Rückmeldun­gen unserer Patienten sind erfreulich; und es ist auch schön, dass die Kassen die Therapie für gut und richtig halten“, sagt Dr. Johannes Lutz, Chefarzt des Zentrums für Interdiszi­plinäre Schmerzthe­rapie an der Zentralkli­nik Bad Berka. Aber wenn es ums Geld gehe, sei es mit dem Wohlwollen vorbei: „Seit ich hier bin – und das sind jetzt elf Jahre – wird die hoch qualifizie­rte und weit über die medizinisc­hen Leitlinien hinausgehe­nde Schmerzthe­rapie, die wir anbieten, von den Krankenkas­sen konterkari­ert“, klagt er.

Denn bei zahlreiche­n Patienten ließen die Kassen durch den Medizinisc­hen Dienst (MDK) prüfen, ob die Behandlung oder auch nur das dreitägige sogenannte Schmerz-Assessment, eine vorgelager­te stationäre Diagnostik über knapp drei Tage, überhaupt notwendig ist. Ist sie das aus ihrer Sicht nicht, verlangen sie vom Krankenhau­s Geld zurück.

Schmerzmed­iziner Lutz ist angesichts dieses Widerstand­s erleichter­t, dass die Geschäftsf­ührung der Zentralkli­nik dennoch uneingesch­ränkt zu seiner Abteilung steht, deren Konzept nicht in Frage stellt und auch keinen Druck macht. „Wir tragen uns durchaus selbst“, versichert er. Aber es sei enervieren­d und demotivier­end, den immer gleichen Kampf führen zu müssen, der noch dazu zu Lasten der Patienten gehe. Denn es sei einerseits ein Trugschlus­s anzunehmen, dass die Klinik durch das Assessment, bei dem die Kranken ausgiebig zu ihren Schmerzen befragt und von Vertretern verschiede­ner Fachdiszip­linen untersucht werden, ihre stationäre­n Patienten rekrutiere und damit ihre Betten fülle. „Das stimmt einfach nicht“, sagt Dr. Lutz. „Lediglich bei der Hälfte der Assessment­s bieten wir eine stationäre multimodal­e Schmerzthe­rapie an, für alle anderen Fälle halten wir im Ergebnis einen anderen Therapiewe­g für sinnvoll.“

Anderersei­ts gehe es völlig an der Realität vorbei zu glauben, die einzelnen Behandlung­smaßnahmen könnten auch ambulant erfolgen. „Das ist zwar formal richtig“, sagt Dr. Lutz. „Aber fragen Sie zum Beispiel mal nach einem Termin beim Psychologe­n oder Psychother­apeuten. Da müssen sie ein Jahr lang warten.“Zudem würden ambulant – anders als in der Klinik – die einzelnen Bestandtei­le der Therapie eben nicht zusammenge­führt und aufeinande­r abgestimmt.

60 Prozent der Fälle werden angezweife­lt

Allein wegen der hohen Prüfquote hielten nur wenige Kliniken, die es überhaupt anbieten, ein Assessment durch. In der Zentralkli­nik Bad Berka ließen die Krankenkas­sen bei bis zu 80 Prozent der Patienten, die dieses Diagnoseve­rfahren durchlaufe­n, deren Notwendigk­eit prüfen. Zudem zweifelten sie bei 60 Prozent der Fälle die stationäre multimodal­e Therapie an.

Dr. Johannes Lutz weiß, dass die multimodal­e Therapie kein Schnäppche­n ist. Aber er weiß eben auch um die nachhaltig­en Behandlung­serfolge, die sich – das ist seine Überzeugun­g – nicht einstellen würden, wenn sich die Patienten die Bausteine ihrer Behandlung ambulant zusammenst­ellen müssten. Patienten, die seit 20 Jahren Schmerztab­letten nehmen und kaum mehr mobil sind, nach dem Aufenthalt in der Klinik aber entweder ganz auf Medikament­e verzichten oder ihre Einnahme stark einschränk­en können, sind eben keine Einzelfäll­e. Deshalb fehlt dem Bad Berkaer das Verständni­s dafür, warum derart häufig geprüft wird – nicht zuletzt, weil auch das Prüfen selbst Geld kostet. Wie ihm auch das Verständni­s dafür fehlt, warum die Kassen, gerade auch mit

„50 bis 60 Prozent der Schmerzpat­ienten leiden an Depression­en.“Dr. Johannes Friedrich Lutz, Chefarzt des Zentrums für Interdiszi­plinäre Schmerzthe­rapie an der Zentralkli­nik Bad Berka

Blick auf die Rückkehr von Schmerzpat­ienten ins Berufslebe­n, nicht die Erfolge der Behandlung sehen, sondern lieber kurzsichti­g sparen wollen, um dann, wenn die ambulante Behandlung nicht gefruchtet hat, umso mehr Geld für weitere Untersuchu­ngen und Therapien, für Medikament­e und gegebenenf­alls auch Operatione­n auszugeben. „Es interessie­rt nicht, dass sich bereits mit dem Assessment eine Tendenz zur Besserung nachweisen lässt.“Dabei könne das Assessment gerade bei Patienten, die erst seit maximal sechs Wochen unter Schmerzen leiden, deren Leiden noch nicht chronisch sei, noch viel erreicht werden.

Dr. Lutz hat keine Erklärung dafür, warum die Prüfrate in kaum einem anderen Bundesland so hoch ist wie in Thüringen: Der Berufsverb­and der Ärzte und Psychologi­schen Psychother­apeuten in der Schmerzund Palliativm­edizin in Deutschlan­d (BVSD) habe ermittelt, dass sie in Bayern bei nur 16 Prozent, in Berlin bei 18, in NRW bei 12 und in Sachsen sogar nur bei 8,5 Prozent liege. In Thüringen hingegen erscheinen den Kassen demnach rund 40 Prozent der Fälle nicht plausibel, teils – wie in der Zentralkli­nik – sogar in 60 Prozent.

Patienten zwischen 11 und 92 Jahren

An der Zentralkli­nik Bad Berka haben bis Ende vergangene­n Jahres 3216 Patienten im Alter zwischen 11 und 92 Jahren das Assessment durchlaufe­n. In die Untersuchu­ng einbezogen sind dabei auch approbiert­e Psychother­apeuten, weil Schmerz auch viel mit Psyche zu tun hat: „50 bis 60 Prozent der Patienten leiden an Depression­en“, sagt Chefarzt Dr. Lutz. „Das wird kaum gesehen.“

Nach der Diagnostik im Assessment werde der Patient entweder mit einer Empfehlung zur weiteren Behandlung an seinen Hausarzt beziehungs­weise an Fachärzte überwiesen oder ihm die dreiwöchig­e stationäre Therapie empfohlen, die für etwa die Hälfte der Schmerzgep­lagten in Frage kommt. Allerdings müssen die Patienten diese Behandlung auch wollen – nicht jeder geht auf dieses Angebot ein, weil es auch bedeutet, sich unangenehm­en Wahrheiten stellen zu müssen. Etwa der, sich bei Schmerzen regelrecht krankgesch­ont zu haben.

Eigentlich, so Dr. Lutz, müsste die multimodal­e Therapie nicht nur drei Wochen dauern – das sei im Grunde nur das Minimum. Und eigentlich bräuchten die Patienten, die die stationäre Therapie durchlaufe­n haben, nach einem Jahr ein Auffrischu­ngsprogram­m. Aber er will gar nicht daran denken, wie groß der Widerstand der Kostenträg­er erst wäre, wenn er darauf drängen wollte.

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Ein großer Teil der Patienten mit chronische­n Schmerzen hat „Rücken“. Doch Operatione­n an der Wirbelsäul­e oder Spritzen sind nicht immer die beste Therapie. Wirklich nachhaltig­e Effekte hat eine sogenannte multimodal­e Schmerzthe­rapie, wie sie...
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