Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Befreit wie Hans im Glück
10 000 Sachen besitzt ein Europäer im Schnitt. Doch Minimalisten sind überzeugt: Sich von Überflüssigem zu lösen, kann Raum schaffen – auch für neue Ideen
F riedrich Nietzsche war einer. Mahatma Gandhi auch. Und Hans im Glück, der junge Mann aus dem Grimmschen Märchen, der auf seiner Wanderung alle materiellen Güter am Ende gegen ein „leichtes Herz“eintauscht, sowieso. Die Rede ist von Minimalisten, heute auch Downgrader genannt. Menschen, die ihren Lebensstil aufs Wesentliche beschränken und keine unnötigen Dinge anhäufen. Dahinter steckt die jahrtausendealte Idee des einfachen Lebens, auch LOVOS (Lifestyle of Voluntary Simplicity) genannt, die nicht nur die großen Denker der unterschiedlichsten Epochen und Kulturen immer wieder in ihren Bann zog. 1 Religion, Tugend und das Leben in der Tonne Ob im Hinduismus, Islam oder Christentum – in den meisten Religionen und Kulturkreisen galten schon vor vielen Jahrhunderten Völlerei und ein dekadenter Lebensstil als Sünden, das enthaltsame Leben, der Verzicht auf irdische Annehmlichkeiten hingegen als gottgefällig. In Klöstern und Orden auf der ganzen Welt wird nach diesem Vorbild gelebt – weil sich der Geist erst dann auf das Wesentliche besinnen könne, wenn er sich vom Materiellen löst. Auch für den griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, der bekanntermaßen aus freien Stücken auf der Straße, in einer Art Tonne hauste, galt das Prinzip der Selbstgenügsamkeit, der Befreiung von Eigentum als Ideal. Angeblich besaß er nur zwei Dinge: ein Säckchen für Proviant und seinen Wanderstock. 2 56-45-25: Traummaße vieler Minimalisten Tausende Jahre später sind es wieder im weitesten Sinne Wandernde, die die Botschaft vom Leben aus dem Rucksack in die Welt tragen. Zahlreiche sogenannte digitale Nomaden, die aufgrund ihrer Berufe im Onlinebereich überall arbeiten können und daher viel reisen, erzählen auf ihren Blogs vom minimalistischen Lebensstil. Mitgenommen wird nur, was in einen Koffer oder Rucksack passt, der an den meisten Flughäfen als Handgepäck deklariert werden kann. Ein tragbares Zuhause mit den Maßen 56-45-25 cm. Die These: Wer wenig hat, muss sich um wenig kümmern und ist somit befreit von unnötigem Ballast.
Ein Vorreiter dieses neuen Minimalismus ist der amerikanische Blogger Kelly Sutton. Er beschloss 2009, seinen ganzen Besitz auf 100 Dinge zu reduzieren. Das entspricht einem Hundertstel dessen, was ein durchschnittlicher Europäer an Dingen anhäuft. Tausende eiferten Suttons „100-Things-Challenge“nach, viele von ihnen diskutierten angeregt in Internetforen darüber, ob Socken nun einzeln oder als Paar gezählt würden. Sutton selbst hat seinen Lebensstil inzwischen übrigens geändert. Auf seiner Webseite schreibt er: „Ich habe jetzt eine Freundin und ein Waffeleisen, wir können uns wohl darauf einigen, dass das Projekt vorbei ist.“3 Junge Wilde und die Befreiung vom Wollen-Sollen Die Idee, sich von Dingen zu lösen, faszinierte immer wieder besonders auch junge Menschen. Natürlich die Aussteiger und Hippies der 60er- und 70er-Jahre, die Konsum kritisch gegenüberstanden. Oder die sogenannte Wandervogel-Bewegung im 19. Jahrhundert, meist junge Erwachsene aus bürgerlichem Haus, die der Industrialisierung den Rücken kehrten, um in der Natur zu leben.
Auch heute macht es den Eindruck, als würden sich viele junge Menschen vom Überfluss abwenden, vom Konsum, der als eine Art Kosmos aus Leuchtreklamen, Onlineshops, aufpoppenden Werbebannern, einer ständigen Reizüberflutung, einem Viel-zu-Viel von allem um sich selbst zu rotieren scheint. 4 Weniger Dinge, mehr Zeit – und Prestige ohne Preisschild Ist die Abkehr vom Objekt als Statussymbol zum neuen Statussymbol geworden? In einer Studie aus dem Jahr 2013 gaben immerhin 70 Prozent der Menschen in Deutschland an, jene zu bewundern, die mit wenig glücklich sind. Kaum überraschend, findet der Sozialpsychologe Jens Förster, der sich in seinem Buch „Was das Haben mit dem Sein macht“damit auseinandersetzt, wie Besitz, Verzicht und Psyche zusammenhängen. „Wir erfahren am eigenen Leib, dass Materialismus nicht glücklich macht“, sagt er. Das liege auch am sogenannten Hyperindividualismus: „Jeder von uns hat alles selbst. Das bedeutet, während früher ein Auto oder ein TV-Gerät in der Familie geteilt wurde, hat heute jedes Familienmitglied eines davon. Früher gab es einen Rasenmäher in der Straße, jetzt hat jeder einen großen und einen kleinen samt Carport.“Doch Dinge zu kaufen und dann instand zu halten koste nicht nur viel Geld, sondern auch Zeit. „Viele Menschen kommen dahinter, dass es sie persönlich glücklicher macht, weniger zu haben, dafür aber mehr Zeit zu bekommen, um das Leben preiswert zu genießen“, sagt Förster. Auch er selbst sei glücklicher, seit er von einer 200in eine 60-Quadratmeter-Wohnung gezogen sei, bewusster lebe und mehr Sachen verschenke. 5 Salami für ein bewussteres und einfaches Leben Wer inspiriert ist vom Konzept des einfachen Lebens, aber keine allzu radikale Umstellung möchte, kann die sogenannte Salamitechnik anwenden. Das heißt: Ein großes Ziel wird in viele kleine Schritte unterteilt. Das kann für mehr Erfolgserlebnisse und Motivation sorgen. Möchte man also minimalistischer leben, sind erreichbare, realistische Etappenziele wichtig. Zum Beispiel für alles, was man sich neu anschafft, ein altes Stück herzugeben. Oder: Einmal in der Woche mit einer Schachtel durch die Wohnung gehen und unnötige Dinge, die keinen emotionalen Wert haben und sich über die Jahre hin angehäuft haben, verschenken oder spenden. Damit tut man anderen und sich selbst etwas Gutes: Wissenschaftler und Psychologen haben schon lange festgestellt, dass die Lösung von Dingen Stress reduzieren und das Wohlbefinden stärken kann. Wer schon einmal nach der Beseitigung des Chaos auf dem Arbeitstisch das Gefühl hatte, die eigenen Gedanken sortiert zu haben, dürfte das bestätigen können. Weniger sinnvoll ist es meist, gleich das ganze Haus umzukrempeln und leer zu räumen. Wer überstürzt Erinnerungsstücke weggibt, kann es später vielleicht bedauern. Viele Dinge haben einen immateriellen Wert. Das Poesiealbum, mit den teils krakeligen Wünschen der Freunde aus der Grundschule. Oder die alte Schallplattenund CD-Sammlung, die die Höhen und Tiefen des Erwachsenwerdens musikalisch untermalte. Woran das Herz hängt, sollte bleiben. Schließlich geht es darum, für sich persönlich bewusst zu entscheiden, was man eigentlich gar nicht braucht – und was vielleicht schon.