Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Die Spielwutbürger
Laienspielgruppe war gestern: Meiningen und Eisenach setzen nicht mehr auf Theaterjugendclubs, sondern auf Konzepte einer Bürgerbühne
Ein Mathematikprofessor entwickelt eine lange Formel zur Wachstumssteigerung. So begann 2015 die erste Aufführung der Meininger Bürgerbühne: „Die Wissenschaftler“, ein Diskurs zur Fortschrittsgesellschaft, angelehnt an „Die Physiker“von Dürrenmatt.
Der Professor war Jens Goebel von der Fachhochschule Schmalkalden, besser bekannt als CDU-Politiker und Kulturminister in Thüringen. Hier war er einer von acht „Experten des Alltags“, darunter eine Therapeutin und eine Krankenschwester.
Drei Monate nur später machten elf Bürger, zwischen 15 und 70 Jahre alt, dem (Meininger) Theater an gleicher Stelle eine Liebeserklärung: „Theatre, mon amour“. Renate Langer zum Beispiel, lange in der Besucherabteilung tätig, berichtete aus Wendetagen, wie sie im Grenzgebiet zu Bayern Eintrittskarten verteilte; das Theater war in jenen Zeiten kein allzu gefragter Ort mehr gewesen.
Das hat sich längst wieder geändert. Die Meininger gehen aber nicht nur in ihr Theater, sie drängen auch auf dessen Bühnen. Daran ist Gabriela Gillert schuld. Die Theaterpädagogin eröffnete 2014 in den Kammerspielen die Bürgerbühne. Unterm Slogan „Zeig Dich*“war geworben worden; es meldeten sich 150 Leute.
„Und der Andrang reißt bis heute nicht ab“, sagt Gillert dreieinhalb Jahre später. Dabei hatte sie Bedenken, dass sich der Bedarf in der kleinen Stadt bald erschöpfen würde.
Davon spürt sie bislang nichts. Die Bürger sind immer noch spielwütig.
Gillert erklärt das mit gesellschaftlichen Entwicklungen. „Die Arbeitswelt wird stiller.“Sie spricht vom Trend zur Vereinzelung. Deshalb gebe es eine „Sehnsucht nach Austausch und nach einer Gruppe “– auch danach, von sich zu erzählen, sich zu erklären. „Es kommen immer wieder Leute, die spielen möchten.“
Die Mutter aller Bürgerbühnen steht in Dresden. Das Staatsschauspiel richtete die Sparte 2009 als „Identifikationspunkt“ein. Von partizipativem Theater ging die Rede. Von Teilhabe. Alte Theorien zur Aufhebung des Sender-EmpfängerPrinzips werden so an Stadtund Staatstheater neue Praxis. Die Bürgerbühne ist das neue Bürgerradio. Gillert verfolgte die „spannende Entwicklung“genau. Am Schauspiel Leipzig hatte sie „viel im partizipativen Bereich gearbeitet“, bevor sie nach Meiningen ging.
Bürgerbühne, das „geht inhaltlich weg vom Laienspielclub.“Sie bedeute eine andere Stellung am Theater, wo es „ein Interesse an Lebenswirklichkeiten“gebe. Experten ihres Berufs und ihres Lebens lösten andere Emotion aus. „Ein Schauspieler bräuchte ewig, um so einen Professor zu spielen“, erinnert sie sich Jens Goebels Auftritt.
Die „Experten des Alltags“sind eine Erfindung des stark dokumentarisch arbeitenden Theaterkollektivs Rimini Protokoll. Mitunter finden sich Schauspieler darunter, dann aber auch als Experten ihrer selbst.
Ein solcher hätte auch der aus Arnstadt stammende Schauspieler Peter Liebaug sein können. Er ist in Meiningen engagiert, wo er nun den Zimmermann und Brigadeleiter Balla gibt, im Stück nach Erik Neutschs Roman „Spur der Steine“; die Fassung orientiert sich an Frank Beyers 1966 verbotener Verfilmung. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Arbeiterstaat verortete Neutsch in Schkona: ein fiktives Chemiekombinat im Dreieck Halle, Schkopau, Leuna. Eben dort, in Leuna, war Liebaug einst ein als Anlagenbauer eingesetzter NVA-Soldat.
In den Kammerspielen führt er die glorreichen Sieben an: Zur Titelmusik des Westernklassikers tritt Ballas Truppe auf. Sie besteht aus Meininger Bürgern, darunter ein alter Maurer und einer, der Beleuchter, Programmierer und Handwerker war. Auch ein Musiker aus Syrien und ein noch sehr junger Mann sind dabei.
Sie sind das, was übrig blieb vom Bürgerbühnenprojekt „Spur der Steine“. Damit wollte Gillert, nach „Sonnenallee“und der „Legende von Paul und Paula“, sozusagen eine DDR-Trilogie vollenden. Ihr Interesse galt dem Meininger Robotron-Werk für Mikroelektronik und seinen Menschen. Die Spur der Steine entdeckte sie in alten Betonplatten, die in der Umgebung noch Wege markieren.
Ein vor alten Werkhallen gedrehtes Zeitzeugen-Video eröffnet ihrer Inszenierung. Ansonsten wurde der gleichwohl sehenswerte Abend eine Koproduktion
Meininger und Eisenacher Schauspieler, die Bürgerbühnen-Brigade inklusive.
Weil das Junge Schauspiel am Landestheater überraschend in Leerlauf geriet, wollte man die Eisenacher hier beschäftigen. Aufführungen am Landestheater wird’s aber nicht geben. Dafür jedoch richteten auch die Eisenacher 2014 eine Bürgerbühne ein: Schauspielerin und Regisseurin Marlène Jeffré leitet dort jetzt die Gruppe „Der rote Faden“. Die umfasste zuletzt zwanzig Spieler, vom 15- bis zum 68-Jährigen. Mit ihnen brachte sie im März Brechts Fragment „Der Untergang des Egoisten Fatzer“auf die große Bühne. Darin desertieren Soldaten aus dem ersten Weltkrieg und warten auf Revolution.
Jeffré nennt’s einen Gesellschaftsspiegel. Eisenachs Bürgerbühne hat allerdings weitaus weniger mit dokumentarischem Theater und Alltagsexperten zu tun. Die Lebenswirklichkeit der Spieler taucht indirekt auf: „Ich besetze Leute so, dass die Rollen etwas mit ihnen zu tun haben“, sagt Marlène Jeffré. „Sie können für die Figuren viel von sich nutzen.“Vor allem gehe es aber darum, in der Theaterwelt sich selbst zu entdecken.
Von einem „Wahnsinnszuspruch“berichtet Jeffré ebenso wie Gillert. In der nächsten Saison will sie George Taboris düster-komisches Stück „Jubiläum“inszenieren; auf einem jüdischen Friedhof treffen darin Geister von Nazi-Opfern auf einen Grabschänder und einen Totengräber.
„Es ist wichtig, an unsere Geschichte immer wieder zu erinnern“, findet Jeffré, „gerade in Eisenach, wo die Mitte verloren geht und es fast nur noch Links oder Rechts gibt.“
Geschichte als Geschichten inszenierte auch die Bürgerbühne, die im Nationaltheater Weimar als Mehrgenerationenclub auftrat: nach den Romanen „Tannöd“von Andrea Maria Schenkel und „In Zeiten des abnehmende Lichts“von Eugen Ruge. Nach einem Wechsel in der Theaterpädagogik gab es zuletzt ein „Inszenierungsprojekt für Jugendliche und junge Erwachsene“zu sehen.
Nicht nur nach Weimar kommen in der nächsten Saison „Die Räuber“, die Gabriela Gillert in Meiningen inszeniert. Sozial benachteiligte Jugendliche aus den vier Thüringer Schillerstädten (auch Jena und Rudolstadt) erobern dabei die große Bühne, wo sie Schauspieler treffen. Bei Erwachsenen bestehe zumeist ein Kontakt zum Theater, sagt Gillert, Jugendliche führe man auf diese Weise ans Theater heran. Deren Motivation beschreibt sie mit dem Satz: „Ich will auch mal auf die Bühne!“
Das Projekt ist so aufwendig, dass die Bürgerbühne pausieren muss. Für die Spielzeit 2019/20 plant Gillert derweil einen Abend über „die jungen Männer in der Stadt, die keine Arbeit bekommen“, während die Frauen weggehen, um zu studieren.
Ein Interesse an der Lebenswirklichkeit
In der Theaterwelt sich selbst entdecken