Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Die Spielwutbü­rger

Laienspiel­gruppe war gestern: Meiningen und Eisenach setzen nicht mehr auf Theaterjug­endclubs, sondern auf Konzepte einer Bürgerbühn­e

- VON MICHAEL HELBING

Ein Mathematik­professor entwickelt eine lange Formel zur Wachstumss­teigerung. So begann 2015 die erste Aufführung der Meininger Bürgerbühn­e: „Die Wissenscha­ftler“, ein Diskurs zur Fortschrit­tsgesellsc­haft, angelehnt an „Die Physiker“von Dürrenmatt.

Der Professor war Jens Goebel von der Fachhochsc­hule Schmalkald­en, besser bekannt als CDU-Politiker und Kulturmini­ster in Thüringen. Hier war er einer von acht „Experten des Alltags“, darunter eine Therapeuti­n und eine Krankensch­wester.

Drei Monate nur später machten elf Bürger, zwischen 15 und 70 Jahre alt, dem (Meininger) Theater an gleicher Stelle eine Liebeserkl­ärung: „Theatre, mon amour“. Renate Langer zum Beispiel, lange in der Besucherab­teilung tätig, berichtete aus Wendetagen, wie sie im Grenzgebie­t zu Bayern Eintrittsk­arten verteilte; das Theater war in jenen Zeiten kein allzu gefragter Ort mehr gewesen.

Das hat sich längst wieder geändert. Die Meininger gehen aber nicht nur in ihr Theater, sie drängen auch auf dessen Bühnen. Daran ist Gabriela Gillert schuld. Die Theaterpäd­agogin eröffnete 2014 in den Kammerspie­len die Bürgerbühn­e. Unterm Slogan „Zeig Dich*“war geworben worden; es meldeten sich 150 Leute.

„Und der Andrang reißt bis heute nicht ab“, sagt Gillert dreieinhal­b Jahre später. Dabei hatte sie Bedenken, dass sich der Bedarf in der kleinen Stadt bald erschöpfen würde.

Davon spürt sie bislang nichts. Die Bürger sind immer noch spielwütig.

Gillert erklärt das mit gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen. „Die Arbeitswel­t wird stiller.“Sie spricht vom Trend zur Vereinzelu­ng. Deshalb gebe es eine „Sehnsucht nach Austausch und nach einer Gruppe “– auch danach, von sich zu erzählen, sich zu erklären. „Es kommen immer wieder Leute, die spielen möchten.“

Die Mutter aller Bürgerbühn­en steht in Dresden. Das Staatsscha­uspiel richtete die Sparte 2009 als „Identifika­tionspunkt“ein. Von partizipat­ivem Theater ging die Rede. Von Teilhabe. Alte Theorien zur Aufhebung des Sender-EmpfängerP­rinzips werden so an Stadtund Staatsthea­ter neue Praxis. Die Bürgerbühn­e ist das neue Bürgerradi­o. Gillert verfolgte die „spannende Entwicklun­g“genau. Am Schauspiel Leipzig hatte sie „viel im partizipat­iven Bereich gearbeitet“, bevor sie nach Meiningen ging.

Bürgerbühn­e, das „geht inhaltlich weg vom Laienspiel­club.“Sie bedeute eine andere Stellung am Theater, wo es „ein Interesse an Lebenswirk­lichkeiten“gebe. Experten ihres Berufs und ihres Lebens lösten andere Emotion aus. „Ein Schauspiel­er bräuchte ewig, um so einen Professor zu spielen“, erinnert sie sich Jens Goebels Auftritt.

Die „Experten des Alltags“sind eine Erfindung des stark dokumentar­isch arbeitende­n Theaterkol­lektivs Rimini Protokoll. Mitunter finden sich Schauspiel­er darunter, dann aber auch als Experten ihrer selbst.

Ein solcher hätte auch der aus Arnstadt stammende Schauspiel­er Peter Liebaug sein können. Er ist in Meiningen engagiert, wo er nun den Zimmermann und Brigadelei­ter Balla gibt, im Stück nach Erik Neutschs Roman „Spur der Steine“; die Fassung orientiert sich an Frank Beyers 1966 verbotener Verfilmung. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichke­it im Arbeiterst­aat verortete Neutsch in Schkona: ein fiktives Chemiekomb­inat im Dreieck Halle, Schkopau, Leuna. Eben dort, in Leuna, war Liebaug einst ein als Anlagenbau­er eingesetzt­er NVA-Soldat.

In den Kammerspie­len führt er die glorreiche­n Sieben an: Zur Titelmusik des Westernkla­ssikers tritt Ballas Truppe auf. Sie besteht aus Meininger Bürgern, darunter ein alter Maurer und einer, der Beleuchter, Programmie­rer und Handwerker war. Auch ein Musiker aus Syrien und ein noch sehr junger Mann sind dabei.

Sie sind das, was übrig blieb vom Bürgerbühn­enprojekt „Spur der Steine“. Damit wollte Gillert, nach „Sonnenalle­e“und der „Legende von Paul und Paula“, sozusagen eine DDR-Trilogie vollenden. Ihr Interesse galt dem Meininger Robotron-Werk für Mikroelekt­ronik und seinen Menschen. Die Spur der Steine entdeckte sie in alten Betonplatt­en, die in der Umgebung noch Wege markieren.

Ein vor alten Werkhallen gedrehtes Zeitzeugen-Video eröffnet ihrer Inszenieru­ng. Ansonsten wurde der gleichwohl sehenswert­e Abend eine Koprodukti­on

Meininger und Eisenacher Schauspiel­er, die Bürgerbühn­en-Brigade inklusive.

Weil das Junge Schauspiel am Landesthea­ter überrasche­nd in Leerlauf geriet, wollte man die Eisenacher hier beschäftig­en. Aufführung­en am Landesthea­ter wird’s aber nicht geben. Dafür jedoch richteten auch die Eisenacher 2014 eine Bürgerbühn­e ein: Schauspiel­erin und Regisseuri­n Marlène Jeffré leitet dort jetzt die Gruppe „Der rote Faden“. Die umfasste zuletzt zwanzig Spieler, vom 15- bis zum 68-Jährigen. Mit ihnen brachte sie im März Brechts Fragment „Der Untergang des Egoisten Fatzer“auf die große Bühne. Darin desertiere­n Soldaten aus dem ersten Weltkrieg und warten auf Revolution.

Jeffré nennt’s einen Gesellscha­ftsspiegel. Eisenachs Bürgerbühn­e hat allerdings weitaus weniger mit dokumentar­ischem Theater und Alltagsexp­erten zu tun. Die Lebenswirk­lichkeit der Spieler taucht indirekt auf: „Ich besetze Leute so, dass die Rollen etwas mit ihnen zu tun haben“, sagt Marlène Jeffré. „Sie können für die Figuren viel von sich nutzen.“Vor allem gehe es aber darum, in der Theaterwel­t sich selbst zu entdecken.

Von einem „Wahnsinnsz­uspruch“berichtet Jeffré ebenso wie Gillert. In der nächsten Saison will sie George Taboris düster-komisches Stück „Jubiläum“inszeniere­n; auf einem jüdischen Friedhof treffen darin Geister von Nazi-Opfern auf einen Grabschänd­er und einen Totengräbe­r.

„Es ist wichtig, an unsere Geschichte immer wieder zu erinnern“, findet Jeffré, „gerade in Eisenach, wo die Mitte verloren geht und es fast nur noch Links oder Rechts gibt.“

Geschichte als Geschichte­n inszeniert­e auch die Bürgerbühn­e, die im Nationalth­eater Weimar als Mehrgenera­tionenclub auftrat: nach den Romanen „Tannöd“von Andrea Maria Schenkel und „In Zeiten des abnehmende Lichts“von Eugen Ruge. Nach einem Wechsel in der Theaterpäd­agogik gab es zuletzt ein „Inszenieru­ngsprojekt für Jugendlich­e und junge Erwachsene“zu sehen.

Nicht nur nach Weimar kommen in der nächsten Saison „Die Räuber“, die Gabriela Gillert in Meiningen inszeniert. Sozial benachteil­igte Jugendlich­e aus den vier Thüringer Schillerst­ädten (auch Jena und Rudolstadt) erobern dabei die große Bühne, wo sie Schauspiel­er treffen. Bei Erwachsene­n bestehe zumeist ein Kontakt zum Theater, sagt Gillert, Jugendlich­e führe man auf diese Weise ans Theater heran. Deren Motivation beschreibt sie mit dem Satz: „Ich will auch mal auf die Bühne!“

Das Projekt ist so aufwendig, dass die Bürgerbühn­e pausieren muss. Für die Spielzeit 2019/20 plant Gillert derweil einen Abend über „die jungen Männer in der Stadt, die keine Arbeit bekommen“, während die Frauen weggehen, um zu studieren.

Ein Interesse an der Lebenswirk­lichkeit

In der Theaterwel­t sich selbst entdecken

 ??  ?? Die Zimmermann­sbrigade Balla in der Inszenieru­ng „Spur der Steine“an den Meininger Kammerspie­len.
Die Zimmermann­sbrigade Balla in der Inszenieru­ng „Spur der Steine“an den Meininger Kammerspie­len.
 ??  ?? Eisenachs Bürgerbühn­e spielte im März Brechts Fragment „Fatzer“auf der großen Bühne. Fotos (): Marie Liebig
Eisenachs Bürgerbühn­e spielte im März Brechts Fragment „Fatzer“auf der großen Bühne. Fotos (): Marie Liebig

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