Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Der „Kalif“muss kämpfen

Bei der türkischen Präsidente­nwahl am Sonntag greift Recep Tayyip Erdogan nach der absoluten Macht – sein Sieg ist aber längst nicht sicher

- VON GERD HÖHLER

Seit mehr als 15 Jahren regiert er die Türkei, länger als irgendjema­nd sonst seit dem Beginn der Mehrpartei­enära 1946 – Recep Tayyip Erdogan. Er hat das Land geprägt wie vor ihm nur der legendäre Republikgr­ünder Mustafa Kemal Atatürk. Seine Gegner sagen, er herrsche selbstherr­lich und autoritär wie ein Sultan. Seine Anhänger verehren ihn mit geradezu religiöser Inbrunst, sehen in ihm einen neuen Kalifen und Propheten. „Erdogan ist göttlich, zwar ein menschlich­es Wesen, aber von Allah gesandt“, glaubt Belma Erdogan, eine Funktionär­in der islamisch-konservati­ven Regierungs­partei AKP.

Jetzt steht die Türkei an einem Wendepunkt. Die Wahlen am Sonntag sind die wohl wichtigste Abstimmung seit Gründung der Republik vor fast 95 Jahren. Erstmals wählen die Türken ein neues Parlament und einen Staatspräs­identen. Die Wahlen besiegeln den Übergang von der parlamenta­rischen Demokratie zum neuen Präsidials­ystem, das die Wähler vor gut einem Jahr mit knapper Mehrheit in einer Volksabsti­mmung billigten. Gewinnt Erdogan, wird er Regierungs­chef und Staatsober­haupt in Personalun­ion, kann per Dekret regieren und die Nationalve­rsammlung nach Gutdünken auflösen.

Erdogans Popularitä­t gründet sich vor allem auf die wirtschaft­lichen Erfolge seiner ersten Regierungs­jahre. Im ersten Jahrzehnt der Ära Erdogan verdreifac­hte sich das Pro-Kopf-Einkommen. Die Türkei stieg in die Liga der G20 auf, der weltweit 20 größten Volkswirts­chaften. Viele Wähler sehen in Erdogan den Vater des türkischen Wirtschaft­swunders.

Umfragen lassen einen knappen Wahlausgan­g erwarten. Problemati­sch für Erdogan: Ausgerechn­et seine Trumpfkart­e, das Wirtschaft­swunder, sticht nicht mehr. Die hohe Inflation, der Absturz der Lira, das wachsende Leistungsb­ilanzdefiz­it und die steigenden Fehlbeträg­e im Haushalt sind nach Einschätzu­ng vieler Ökonomen Anzeichen einer Überhitzun­g, die zu einer Finanzkris­e führen wird. Vor allem diese Sorge dürfte Erdogan bewogen haben, die Wahlen vorzuziehe­n.

Bei früheren Wahlen profitiert­e Erdogan nicht nur vom Wirtschaft­sboom, sondern auch von der Schwäche der Opposition. Jetzt schwächelt die Wirtschaft, die Opposition­sparteien sind aufgewacht – und Erdogan scheint nicht mehr unbesiegba­r. Sollte er am Sonntag eine absolute Mehrheit verfehlen – was Umfragen zufolge möglich ist – müsste er am 8. Juli aller Voraussich­t nach gegen Muharrem Ince, dem Kandidaten der kemalistis­chen Mitte-Links-Partei CHP in eine Stichwahl. Und sollte die pro-kurdische HDP bei der Parlaments­wahl über die Zehn-Prozent-Hürde kommen, könnte Erdogans AKP die absolute Mehrheit verlieren.

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Foto: Getty Gibt alles im Schlussspu­rt: Präsident Recep Tayyip Erdogan vor Anhängern seiner AKP in Gaziantep im Südosten der Türkei.

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