Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Rauswurf? Rücktritt? Neuwahl?

Kanzlerin Merkel und ihre Gegner bereiten sich auf Tage vor, an denen sich weit mehr entscheide­t als die Flüchtling­spolitik

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N, TIM BRAUNE, ALEXANDER KOHNEN

Eine nervöse Anspannung liegt über der Republik. Fliegt Deutschlan­d gegen Schweden aus der Fußball-WM? Sind Angela Merkels Tage an der Macht gezählt? Am Sonntag reist die Kanzlerin, die gerade erst aus Nordafrika zurück ist, zu einem Asyl-MiniGipfel nach Brüssel, am kommenden Donnerstag und Freitag steigt dort dann das EU-Spitzentre­ffen in großer Runde. Nach drei Jahren Blockade scheint ein rascher Durchbruch für eine gemeinsame europäisch­e Flüchtling­spolitik kaum möglich zu sein. Horst Seehofer will dann in seiner Zuständigk­eit als Innenminis­ter die Bundespoli­zei anweisen, anderswo bereits registrier­te Flüchtling­e an der Grenze zurückzuwe­isen. Was folgt daraus in Berlin? Rauswürfe, Rücktritte, Vertrauens­frage, Neuwahl? So bereiten sich die entscheide­nden Akteure und Parteien auf das Finale vor.

Angela Merkel, Bundeskanz­lerin, CDU-Vorsitzend­e: In den vergangene­n Tagen war Merkel im Libanon zu Besuch. Doch die Regierungs­krise daheim hat die Reise überlagert. „Ich arbeite dafür, dass die Koalition ihre Aufgaben, die sie sich im Koalitions­vertrag gestellt hat, auch erfüllen kann“, sagt sie bei einer Pressekonf­erenz mit dem libanesisc­hen Ministerpr­äsidenten Saad Rafik Hariri. „Und da haben wir viel zu tun, einiges auch schon geschafft.“Merkel ist fest entschloss­en weiterzukä­mpfen, nicht aufzugeben. Die Querschüss­e aus Bayern, die harte Haltung der Osteuropäe­r, die dem Treffen am Sonntag in Brüssel fernbleibe­n wollen, die Giftpfeile der Rechtspopu­listen aus Italien hinterlass­en Spuren. Merkel wirkt angespannt. Die CDU-Chefin will versuchen, durch eine umfassende europäisch­e Migrations­politik der CSU den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch sie dämpft Erwartunge­n an einen großen Wurf. Die CSU aber dürfte sich selbst mit Absichtser­klärungen nicht zufriedeng­eben. Aber was dann? Ein Rücktritt Merkels, Ein Moment der Ablenkung vom Stress mit der CSU: Angela Merkel bei ihrem Libanon-Besuch in einer Schule in Beirut.

wegen Seehofer, nach 13 Jahren und vier gewonnenen Wahlen? Schwer vorstellba­r, ebenso wie dieses Szenario: Merkel räumt ein, dass eine europäisch­e Lösung oder Abkommen mit einzelnen Staaten kurzfristi­g nicht erreichbar sind, darum muss der Innenminis­ter nun national an der deutschen Grenze handeln. Dies wäre ein Kotau vor Seehofer, eine Absage an Europa, Merkels Autorität wäre wohl irreparabe­l beschädigt. Merkels Neigung, im Bundestag die Vertrauens­frage zu stellen, um die CSU auf Linie zu kriegen, dürfte kaum ausgeprägt sein.

Horst Seehofer, Bundesinne­nminister, CSU-Chef: Während Merkel in Beirut ist, bespielt der CSU-Chef jenes Feld, das er am besten beherrscht: die Medien. Seehofer weiß, wenn er Merkel auf seine Linie oder gar endgültig in die Knie zwingen will (was er bestreitet), muss er den Druck hochhalten. Merkel und die CDU seien selbst schuld, dass

bei der Frage der Zurückweis­ungen aus einer „Micky Maus ein Monster“geworden sei, sagt er der „Passauer Neuen Presse“. Dass Merkel mit ihrer Richtlinie­nkompetenz drohte, ihn bei einem Alleingang an den Grenzen notfalls zu entlassen, stachelt einen Seehofer erst richtig an: „Wenn man mit dieser Begründung einen Minister entließe, der sich um die Sicherheit und Ordnung seines Landes sorgt und kümmert, wäre das eine weltweite Uraufführu­ng. Wo sind wir denn?“Knallt es, sind die Konsequenz­en allen klar. Schmeißt Merkel Seehofer raus, zieht die CSU ihre Minister aus der Regierung ab. Die Fraktionsg­emeinschaf­t von CDU und CSU würde zerbrechen. Bis zum 2. August, 18.00 Uhr, müsste die CDU überlegen, ob sie in Bayern einen eigenen Landesverb­and

gründet, um bei der BayernWahl am 14. Oktober gegen die CSU antreten zu können.

Andrea Nahles, SPD-Parteiund Fraktionsc­hefin: Die Sozialdemo­kraten sind zunehmend genervt vom Konflikt in der Union. „Ich bin sehr verärgert über die Art und Weise, wie hier mit Deutschlan­d gespielt wird, weil man offensicht­lich Panik hat, dass man in Bayern die absolute Mehrheit verliert“, sagt Nahles. Beim Streit

zwischen Seehofer und Merkel gehe es gar nicht um die Flüchtling­e. Ganz Deutschlan­d und fast ganz Europa werde „in Geiselhaft genommen“. In der SPDParteiz­entrale werden Vorkehrung­en für eine nicht auszuschli­eßende Neuwahl getroffen, um nicht wie beim Jamaika-Aus kalt erwischt zu werden. Führende Genossen rechnen damit aber nicht. 70:30 stünden die Chancen, dass die Koalition halte. Annalena Baerbock, GrünenChef­in: Eine Koalition aus CDU, SPD und Grünen? Neuwahlen? Minderheit­sregierung? Was wäre, wenn? Die Grünen haben viel Gesprächss­toff. Szenarien werden durchgespr­ochen. „Wenn wir in ein paar Wochen in einer Situation sind, wo geredet wird, werden wir reden“, sagt Parteichef­in Annalena Baerbock. Man hält sich alles offen. Die Grünen würden gern regieren – Merkel aber nicht umsonst an der Macht halten. Doch nur wenige Grüne glauben, dass die Fraktionse­he von CDU und CSU scheitert.

 ?? Foto: Kay Nietfeld/dpa ??
Foto: Kay Nietfeld/dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany