Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Rauswurf? Rücktritt? Neuwahl?
Kanzlerin Merkel und ihre Gegner bereiten sich auf Tage vor, an denen sich weit mehr entscheidet als die Flüchtlingspolitik
Eine nervöse Anspannung liegt über der Republik. Fliegt Deutschland gegen Schweden aus der Fußball-WM? Sind Angela Merkels Tage an der Macht gezählt? Am Sonntag reist die Kanzlerin, die gerade erst aus Nordafrika zurück ist, zu einem Asyl-MiniGipfel nach Brüssel, am kommenden Donnerstag und Freitag steigt dort dann das EU-Spitzentreffen in großer Runde. Nach drei Jahren Blockade scheint ein rascher Durchbruch für eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik kaum möglich zu sein. Horst Seehofer will dann in seiner Zuständigkeit als Innenminister die Bundespolizei anweisen, anderswo bereits registrierte Flüchtlinge an der Grenze zurückzuweisen. Was folgt daraus in Berlin? Rauswürfe, Rücktritte, Vertrauensfrage, Neuwahl? So bereiten sich die entscheidenden Akteure und Parteien auf das Finale vor.
Angela Merkel, Bundeskanzlerin, CDU-Vorsitzende: In den vergangenen Tagen war Merkel im Libanon zu Besuch. Doch die Regierungskrise daheim hat die Reise überlagert. „Ich arbeite dafür, dass die Koalition ihre Aufgaben, die sie sich im Koalitionsvertrag gestellt hat, auch erfüllen kann“, sagt sie bei einer Pressekonferenz mit dem libanesischen Ministerpräsidenten Saad Rafik Hariri. „Und da haben wir viel zu tun, einiges auch schon geschafft.“Merkel ist fest entschlossen weiterzukämpfen, nicht aufzugeben. Die Querschüsse aus Bayern, die harte Haltung der Osteuropäer, die dem Treffen am Sonntag in Brüssel fernbleiben wollen, die Giftpfeile der Rechtspopulisten aus Italien hinterlassen Spuren. Merkel wirkt angespannt. Die CDU-Chefin will versuchen, durch eine umfassende europäische Migrationspolitik der CSU den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch sie dämpft Erwartungen an einen großen Wurf. Die CSU aber dürfte sich selbst mit Absichtserklärungen nicht zufriedengeben. Aber was dann? Ein Rücktritt Merkels, Ein Moment der Ablenkung vom Stress mit der CSU: Angela Merkel bei ihrem Libanon-Besuch in einer Schule in Beirut.
wegen Seehofer, nach 13 Jahren und vier gewonnenen Wahlen? Schwer vorstellbar, ebenso wie dieses Szenario: Merkel räumt ein, dass eine europäische Lösung oder Abkommen mit einzelnen Staaten kurzfristig nicht erreichbar sind, darum muss der Innenminister nun national an der deutschen Grenze handeln. Dies wäre ein Kotau vor Seehofer, eine Absage an Europa, Merkels Autorität wäre wohl irreparabel beschädigt. Merkels Neigung, im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen, um die CSU auf Linie zu kriegen, dürfte kaum ausgeprägt sein.
Horst Seehofer, Bundesinnenminister, CSU-Chef: Während Merkel in Beirut ist, bespielt der CSU-Chef jenes Feld, das er am besten beherrscht: die Medien. Seehofer weiß, wenn er Merkel auf seine Linie oder gar endgültig in die Knie zwingen will (was er bestreitet), muss er den Druck hochhalten. Merkel und die CDU seien selbst schuld, dass
bei der Frage der Zurückweisungen aus einer „Micky Maus ein Monster“geworden sei, sagt er der „Passauer Neuen Presse“. Dass Merkel mit ihrer Richtlinienkompetenz drohte, ihn bei einem Alleingang an den Grenzen notfalls zu entlassen, stachelt einen Seehofer erst richtig an: „Wenn man mit dieser Begründung einen Minister entließe, der sich um die Sicherheit und Ordnung seines Landes sorgt und kümmert, wäre das eine weltweite Uraufführung. Wo sind wir denn?“Knallt es, sind die Konsequenzen allen klar. Schmeißt Merkel Seehofer raus, zieht die CSU ihre Minister aus der Regierung ab. Die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU würde zerbrechen. Bis zum 2. August, 18.00 Uhr, müsste die CDU überlegen, ob sie in Bayern einen eigenen Landesverband
gründet, um bei der BayernWahl am 14. Oktober gegen die CSU antreten zu können.
Andrea Nahles, SPD-Parteiund Fraktionschefin: Die Sozialdemokraten sind zunehmend genervt vom Konflikt in der Union. „Ich bin sehr verärgert über die Art und Weise, wie hier mit Deutschland gespielt wird, weil man offensichtlich Panik hat, dass man in Bayern die absolute Mehrheit verliert“, sagt Nahles. Beim Streit
zwischen Seehofer und Merkel gehe es gar nicht um die Flüchtlinge. Ganz Deutschland und fast ganz Europa werde „in Geiselhaft genommen“. In der SPDParteizentrale werden Vorkehrungen für eine nicht auszuschließende Neuwahl getroffen, um nicht wie beim Jamaika-Aus kalt erwischt zu werden. Führende Genossen rechnen damit aber nicht. 70:30 stünden die Chancen, dass die Koalition halte. Annalena Baerbock, GrünenChefin: Eine Koalition aus CDU, SPD und Grünen? Neuwahlen? Minderheitsregierung? Was wäre, wenn? Die Grünen haben viel Gesprächsstoff. Szenarien werden durchgesprochen. „Wenn wir in ein paar Wochen in einer Situation sind, wo geredet wird, werden wir reden“, sagt Parteichefin Annalena Baerbock. Man hält sich alles offen. Die Grünen würden gern regieren – Merkel aber nicht umsonst an der Macht halten. Doch nur wenige Grüne glauben, dass die Fraktionsehe von CDU und CSU scheitert.