Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Das kleine Mädchen

- JÖRN MEYN ÜBER HEIMWEH IN RUSSLAND

E in kleines Mädchen ohne Frisur hat mir neulich komplett den Stecker gezogen. Wir Journalist­en standen am Gepäckband auf dem Flughafen in Sotschi und vertrieben uns die Zeit damit, einen Fußball herum zu kicken. Das Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt, hatte zwarnoch kaum Haare auf dem Kopf, aber mächtig Lust mitzuspiel­en. Sie lief an, schoss den Ball in unsere Richtung. Doch als ich ihn ihr zurückspie­lte, hatte sie etwas anderes entdeckt und ließ uns links liegen.

Bei einer WM als Journalist dabei zu sein, ist auch für mich immer noch die Erfüllung eines berufliche­n Traums. Aber etwas ist diesmal anders als vor vier Jahren in Brasilien. Ich bin jetzt Vater. Mein kleines Mädchen ist auch zwei Jahre alt. Und ehe Sie fragen: Sie hat eine Frisur. Wir können ihr sogar schon einen Zopf machen. Und obwohl ich lange darüber nachgedach­t habe, finde ich keine Worte, die meine Liebe zu ihr ausreichen­d beschreibe­n können. Es ist kein einfaches Heimweh, was mich hier manchmal plagt, vor allem wenn ich andere kleine Mädchen sehe. Es ist Heimweh nach meiner Tochter und meiner Frau. Heimat, das sind die beiden für mich.

Meine Frau und ich haben uns vor dem Turnier ein Gegenmitte­l überlegt. Jeden Abend vor dem Einschlafe­n gibt es einen Videoanruf. Dann guckt meine Tochter aus müden Augen und sagt „Papa“, was mit Schnuller im Mund manchmal wie „Popo“klingt. Aber nachdem das in den ersten Tagen wunderbar klappte, hat meine Tochter plötzlich keine Lust mehr dazu. Neulich haute sie meiner Frau das Handy aus der Hand, als sie mich darauf sah. Vor zwei Tagen sagte sie schon nach zwei Minuten am Telefon zu mir: „Alle, alle. Tschüss Papa.“Dann wollte sie auflegen und mich links liegen lassen. Meine Frau musste lachen. Und es stimmt ja. Man muss das mit Humor nehmen. Und trotzdem tut es weh.

Wenn es überhaupt irgendetwa­s Gutes hätte, sollte die deutsche Nationalma­nnschaft früh aus dem WMTurnier fliegen, dann das: Popo wäre wieder zu Hause. Und dann müsste ich mit meiner Tochter wohl mal ein ernstes Wörtchen reden.

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