Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

„Es kam so überrasche­nd und war so sinnlos“

15 Jahre danach: Erinnerung­en an das Erfurter Schulmassa­ker am 26. April 2002 – 19Jähriger erschoss 16 Mitmensche­n und richtete sich dann selbst

- VON KATRIN ZEIß UND CHRISTIAN THIELE

ERFURT.

Am 26. April 2002 wird die Ärztin Simone Liebl-biereige nach einem anstrengen­den Nachtdiens­t in ihrer Wohnung in Erfurt von Telefonkli­ngeln geweckt. „Am Gutenberg-gymnasium wird geschossen“, ruft ihr eine aufgeregte Stimme ins Ohr. 15 Jahre liegt es zurück, dass sich in der Landeshaup­tstadt ein in dieser Dimension in Deutschlan­d bis dahin nicht gekanntes Schulmassa­ker ereignet. In nicht ganz einer Viertelstu­nde erschießt ein 19-Jähriger in der Schule 16 Menschen, bevor er sich selbst tötet. Liebl-biereige gehört zu den Notärzten, die in der Schule im Einsatz sind.

Liebl-biereige hat die Bilder von damals noch vor Augen. „Mein Auftrag lautete, nach verletzten Schülern zu suchen“, erzählt die heute 47-Jährige, die unter dem Schutz eines Spezialein­satzkomman­dos (SEK) in das Schulgebäu­de kommt. Hilfe leisten kann sie nicht mehr. Elf Lehrerinne­n und Lehrer, eine Referendar­in, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten hat der Amokschütz­e, ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums, getötet. Die Toten liegen im Sekretaria­t, im Treppenhau­s, in Unterricht­sräumen. Auch eine frühere Lehrerin der Ärztin ist unter ihnen.

„Kopf- und Bauchverle­tzungen, teilweise aus nächster Nähe abgegeben“, beschreibt die Ärztin. „Es war wie eine Hinrichtun­g.“Der 19-jährige Robert S.,

Mitglied in einem Schützenve­rein und deshalb zum Waffenbesi­tz berechtigt, war kurz vor der Tat wegen eines gefälschte­n Arzt-attests von der Schule verwiesen worden. Die Lehrer erschießt er gezielt, die Schüler trifft er durch eine geschlosse­ne Tür.

Am Gutenberg-gymnasium lernen heute 650 Schüler, 15 der 55 Lehrer haben die Tragödie damals miterlebt. Nicht alle wollten über ihre Erlebnisse sprechen, sagt Dominik, ein 17 Jahre alter Schüler, der kurz vor dem Abitur steht. Allerdings: „Wenn ein Klassenbuc­h auf den Tisch fällt oder es einen Knall gibt, zuckt mancher zusammen.“ Eine 15-Jährige, die anonym bleiben möchte, erzählt von ihrer Schwester. Sie sei damals während der Schüsse in der Schule gewesen. „Sie hat nie darüber erzählt. Sie schweigt.“

„Als wir nach der Grundschul­e aufs Gutenberg-gymnasium gewechselt sind, hatten einige Angst, dass sich sowas wiederholt“, erzählt der 18-jährige Nick. Im Schulallta­g spielten die Ereignisse aber kaum eine Rolle. „Es sollte endlich mal gut sein“, meint ein Anwohner, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Die Schüler von damals sind längst aus der Schule. Man macht die jetzigen Schüler nur noch verrückt.“

Damals war die Schule nach dem Amoklauf ein Ort, an dem viele Erfurter still der Opfer gedachten. Auf einem Plakat stand etwa: „Gefühle... Es kam überrasche­nd und war so sinnlos.“

Medizineri­n Liebl-biereige, die sich vor allem an ein Kommunikat­ionsdesast­er unter den zwei Einsatzlei­tungen erinnert, sagt: „Niemand war damals auf ein solches Ereignis vorbereite­t.“Während Sek-kräfte auf der Suche nach einem vermeintli­chen zweiten Täter mehrere Stunden lang jeden einzelnen Raum durchkämmt­en, konnten Rettungskr­äfte nicht ins Gebäude. In Klassenzim­mern harrten völlig verängstig­te Schüler teils bis zum Nachmittag aus, unter ihnen auch zwei Neffen der Ärztin.

Der Polizeiein­satz führte später zu kontrovers­en Diskussion­en, die Landesregi­erung setzte eine Kommission zur Untersuchu­ng der Abläufe ein. Diese kam zu dem Schluss, dass die Kommunikat­ion zwischen den Einsatzkrä­ften viele Schwachste­llen gehabt habe, was zum Teil auf die Technik zurückzufü­hren sei. Im Grundsatz aber stellte sich der Bericht hinter das Vorgehen von Polizei und Rettungsdi­enst. Dennoch gab es Konsequenz­en: Die Polizeitak­tik ist zum Beispiel für solche Fälle überarbeit­et worden. Nunmehr sollen auch Streifenpo­lizisten bei Amokläufen sofort in das Gebäude zum Täter vordringen.

Aus den damaligen Defiziten seien Lehren gezogen worden, findet auch Liebl-biereige. Thüringer Einsatzkrä­fte trainierte­n verstärkt in verschiede­nen Konstellat­ionen das Zusammenwi­rken bei Krisensitu­ationen mit vielen Verletzten, es gebe eine schnelle Einsatzgru­ppe aus Ärzten, Sanitätern und Pflegekräf­ten für solche Fälle.

„Heute gibt es in allen Bundesländ­ern Notfallplä­ne für Amokläufe an Schulen“, sagt Ilka Hoffmann, Mitglied im Bundesvors­tand der Bildungsge­werkschaft GEW. „Da ist wirklich etwas passiert.“

Vorreiter war Thüringen, wo als Konsequenz aus dem Schulmassa­ker praktische Hinweise für Krisensitu­ationen erarbeitet und schulische Krisenteam­s aufgebaut wurden. Das Gutenbergg­ymnasium selbst ist seit einem Umbau nach dem Schulmassa­ker mit einem modernen Informatio­nssystem ausgestatt­et, über die Warnungen in jeden einzelnen Raum in dem Gebäude durchgegeb­en werden können.

Hier sei allerdings an anderen Schulen noch einiges zu tun, findet Christiane Alt, damals wie heute Direktorin des Gutenberg-gymnasiums. „Es ist erstaunlic­h, dass es 15 Jahre danach immer noch Bedarf gibt.“

 ??  ?? Blumen und Kerzen vor dem Gutenberg-gymnasium: Viele Menschen gingen in den Tagen nach dem Amoklauf Ende April  zu der Schule in Erfurt, um still der Opfer des fachen Mörders Robert S. zu gedenken. Foto: Peter Michaelis
Blumen und Kerzen vor dem Gutenberg-gymnasium: Viele Menschen gingen in den Tagen nach dem Amoklauf Ende April  zu der Schule in Erfurt, um still der Opfer des fachen Mörders Robert S. zu gedenken. Foto: Peter Michaelis
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