Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Jeden Tag ist ein Kind in Gefahr
Die neue, vom Land geförderte Fachstelle für Kinderschutz ist am Erfurter Heliosklinikum angesiedelt
ERFURT. Die Zahlen sind erschreckend: 10 bis 15 Prozent aller Frakturen bei Kindern haben ihre Ursache in einer körperlichen Misshandlung oder schweren Vernachlässigung, bei Kindern unter einem Jahr sind es sogar 50 Prozent.
Genau deshalb müssen alle, die außerhalb von Familien mit Kindern zu tun haben – Erzieher, Lehrer, Trainer, Ärzte – angesichts von Verletzungen, die Kinder erleiden, für das Thema sensibilisiert werden. Sie sollten genauer hinschauen und immer auch die Möglichkeit einer Misshandlung oder eines Missbrauchs im Hinterkopf haben, wenn die Schilderung des Unfallhergangs nicht zum Verletzungsmuster zu passen scheint.
Damit sie aber nicht allein mit ihrem Verdacht dastehen und sich mit der Frage quälen müssen, ob sie Dritte ins Boot holen sollten oder nicht, brauchen sie die Möglichkeit des Austauschs mit Experten. Am Erfurter Helios-klinikum gibt es deshalb seit einigen Jahren wie an etlichen anderen Häusern mit Kinderchirurgen auch eine Kinderschutzgruppe, die in genau solchen Fällen zusammentritt.
Sobald ein Arzt einen Verdacht hegt, wird nicht nur eine rote Mappe mit allen Fakten zur Verletzung des Kindes angelegt, sondern auch die multiprofessionelle Kinderschutzgruppe zusammengerufen. „Ihr gehören Vertreter von mindestens drei Disziplinen an“, erklärt Tonio Manser, der seit knapp einem Jahr die Kinderschutzambulanz an diesem Krankenhaus koordiniert. „Neben Ärzten sind das auch Sozialarbeiter und Psychologen. Sie tauschen sich aus und beraten das weitere Vorgehen.“
Bestehe eine akute Kindeswohlgefährdung, werde ein Kind zu seinem Schutz aber auf jeden Fall zunächst stationär aufgenommen, ehe dann auch Polizei und Jugendamt eingeschaltet werden.
Schon die Begriffe sind unterschiedlich
Mit ihrer Expertise wirken die Mitarbeiter des Helios-klinikums darüber hinaus nach außen. „Mit der Kinderschutzambulanz bieten wir unser Fachwissen zum Beispiel Jugendämtern, niedergelassenen Kinderärzten und der Polizei, aber auch Eltern an. Zudem arbeiten wir der Justiz bei Ermittlungsverfahren zu“, sagt Manser.
Je nachdem, welche Eile in dem Fall geboten sei, mit dem sich jemand an die Kinderschutzambulanz wendet, werde ein Termin sofort oder innerhalb von ein bis zwei Tagen vereinbart.
Wie wichtig diese Netzwerkarbeit und ihre Koordination sind, verdeutlicht Tonio Manser an einem Beispiel: „Schon die Begrifflichkeiten sind von Behörde zu Behörde unterschiedlich: Für die Polizei ist eine ,KV‘ eine Körperverletzung, für das Jugendamt aber der Kindsvater.“Da müsse vermittelt werden, um letztlich die gleiche Sprache zu sprechen und Fälle zügig abarbeiten zu können. „Dafür nehme ich mir viel Zeit“, sagt Tonio Manser.
Etwa 70 Fälle betreut die seit 2013 in Erfurt existierende Kinderschutzambulanz pro Jahr, „jeder davon ist natürlich einer zu viel“. Und weil das so ist, will das Helios-klinikum das Netzwerk ausbauen: einen regen Austausch zwischen den an Kliniken existierenden bislang neun Thüringer Kinderschutzgruppen initiieren, aber auch den Deutschen Kinderschutzbund als Kooperationspartner mit einbinden.
„Wir wollen mit allen in Kontakt treten, die sich für Gewalt gegen Kinder engagieren, wollen erfahren, welche Erwartungen sie haben, beispielsweise daran, was genau eine medizinische Statistik auflisten soll“, sagt Tonio Manser, der studierter Sozialpädagoge ist.
Ziel sei ein flächendeckend in Thüringen wirkendes Netzwerk. Ein solches zu knüpfen, sei aber für das Helios-klinikum nur möglich, weil das Land künftig für zunächst vier Jahre die Fachstelle zur landesweiten Koordinierung des medizinischen Kinderschutzes am Erfurter Klinikum fördert.
Im letzten Jahr waren 365 Kinder akut gefährdet
Die Erfurter hatten sich mit ihrem Konzept in einem ordentlichen Bewerbungsverfahren gegen die Thüringer Ambulanz für Kinderschutz (TAKS) am Uni-klinikum Jena durchsetzen können, die über drei Jahre lang vom Land gefördert worden war. „Die TAKS hat unheimlich viel Vorarbeit geleistet“, unterstreicht Tonio Manser zugleich das sehr gute kollegiale Verhältnis zu den Jenaern.
Die Jugendämter in Thüringen haben im Jahr 2016 insgesamt 3090 Mal eingreifen müssen, weil zunächst Sorge um das Wohl von Kindern bestand.
In mehr als 70 Prozent der Fälle kamen Experten jedoch zu dem Ergebnis, dass keine Kindeswohlgefährdung vorlag. In 365 Fällen aber bestand eine akute Gefährdung des Kindeswohls – das heißt, im Schnitt ein Thüringer Kind pro Tag.