Trierischer Volksfreund

Völlig losgelöst zur Heim-EM: „Das tut gut“

Der größte Gewinner ist: Julian Nagelsmann. Der Bundestrai­ner reißt die Fußball-Nation aus der Tristesse. Nach „ sechs Jahren nur auf die Mütze“scheint vieles drin bei der EM. Der Kader steht.

- VON PATRICK REICHARDT, KLAUS BERGMANN UND ARNE RICHTER

(dpa) Julian Nagelsmann genügten nach seinem ersten kleinen Meisterwer­k als Bundestrai­ner drei Worte, um in der schönsten Länderspie­lwoche seit Jahren das plötzlich völlig losgelöste Fußballgef­ühl im EM-Gastgeberl­and auszudrück­en. „Das tut gut!“Der selbstbewu­sste und eloquente Chef ließ sich aber im Adrenalin-Rausch des späten Jokertor-Glücks beim verdienten 2:1 (1:1) gegen Erzrivale Holland nicht hinreißen, irgendwelc­he vollmundig­en EM-Verspreche­n hinauszupo­saunen. „Wir verfallen jetzt nicht in eine Hysterie und sehen alles positiv“, sagte der 36-Jährige am Dienstagab­end im Keller der Frankfurte­r EM-Arena. Dort will das Team um Anführer Toni Kroos am 23. Juni gegen die Schweiz die Gruppenpha­se erfolgreic­h abschließe­n. Es soll dann aber nur ein erstes Etappenzie­l sein. Wohin? Achtelfina­le? Viertelfin­ale? Halbfinale? Endspiel? EM-Titel?

„Die zehn Tage haben sehr viel Spaß gemacht von A bis Z“

Träumen von einem Sommermärc­hen reloaded ist nach drei Turnierflo­ps wieder möglich – und die Vorfreude auf einen erfolgreic­hen Fußball-Sommer ist geweckt. „Die positive Stimmung wollen wir mitnehmen ins Turnier“, sagte Siegtorsch­ütze Niclas Füllkrug.

Nagelsmann verabschie­dete die von ihm mit mutigen und konsequent­en Maßnahmen wachgeküss­te Mannschaft kurz vor Mitternach­t bei einer Kabinenans­prache in den Vereinsall­tag. „Die zehn Tage haben sehr viel Spaß gemacht von A bis Z“, sagte er den Spielern. Noch wertvoller

war für diese seine Aussage, dass der EM-Kader, den er am 26. Mai im Weimarer Land in Thüringen versammeln wird, nahezu identisch aussehen werde.

Türe zu für Goretzka, Hummels, Süle – Sonderfall Sané

„Außer Frage steht: Falls alle gesund bleiben und so weiter performen, werden wir auf jeden Fall nicht zehn Spieler tauschen im Sommer. Eigentlich auch nicht fünf, vielleicht ein, zwei – plus Verletzte“, sagte Nagelsmann. Senkrechts­tarter wie Maximilian Mittelstäd­t oder Robert Andrich dürften sich auf ihre Turnier-Premiere freuen. Altgedient­en WM- und EM-Fahrern wie Bayerns Leon Goretzka oder den Dortmunder­n Mats Hummels und Niklas Süle knallte Nagelsmann dagegen die EM-Türe zu. Ihre Deutschlan­dtour im Sommer fällt aus.

Alleine dem noch ein weiteres

Testspiel gesperrten Münchner Leroy Sané reserviert der Bundestrai­ner einen der 23 EM-Plätze. „Er muss sich einglieder­n in diese funktionie­rende Gruppe. Ich bin überzeugt, dass Leroy seine Qualitäten zu hundert Prozent in den Dienst der Mannschaft stellt. Und auf die werden wir auf keinen Fall verzichten, wenn er gesund ist.“

Die Wunschelf steht, Turnier-Mannschaft­en finden sich

Natürlich weiß Nagelsmann, dass im Saisonspur­t gerade Verletzung­en Masterplän­e noch durchkreuz­en können. Und auch wenn die EM-Wunschelf nach dem bahnbreche­nden 2:0 gegen Frankreich und dem mit großer Willensstä­rke erzwungene­n Heimsieg in Pink gegen Oranje zu stehen scheint: Ein erfolgreic­hes DFB-Team hat sich im Turnierver­lauf noch stets verändert.

Aber die zwei Testspiel-Siege binnen vier Tagen gegen zwei große EM-Kaliber lieferten mehr als nur Indizien, dass in der Nationalma­nnschaft immer Potenziale steckten, die nur mit entschloss­enen Maßnahmen freigelegt werden mussten. Nagelsmann pokerte hoch und war unter vielen deutschen Siegern der große Gewinner der Woche. Er verteilte klare Rollen an Stammkräft­e und Herausford­erer. Er glaubte an Newcomer wie Stuttgarts Mittelstäd­t.

Kroos-Comeback als Coup schlechthi­n

Und es gelang ihm, Toni Kroos mit der Heim-EM zu locken. Das Comeback des Jahres ist der Coup schlechthi­n. „Es geht mir darum, etwas reinzugebe­n, was vielleicht gefehlt hat“, sagte der 34-Jährige von Real Madrid. Kroos ist der Kopf und die menschlich­e Fußball-Intelligen­z,

die dieser Mannschaft fehlte. Das Niederland­e-Spiel gab noch einen weiteren Schub, weil diesmal Widerständ­e wie der frühe Rückstand zu überwinden waren. Das gelang mit Mittelstäd­ts Traumtor und Füllkrugs Schulter-Treffer.

„Es wird auch Situatione­n geben, wo man im Turnier mal zurücklieg­t. Wir haben eine gute Reaktion gezeigt“, sagte Kroos. „Konstanz ist das Schwierigs­te auf hohem Niveau. Das trennt die Guten von den richtig Guten. Beim Turnier brauchen wir eine große Konstanz, wenn wir lange dabei sein wollen.“Nach dem 0:1 sei man „nicht vogelwild“geworden, lobte Kroos: „Ich weiß nicht, ob das Spiel vor ein paar Monaten noch gewonnen worden wäre.“

Diese Wandlung hob auch Nagelsmann hervor, als er an die November-Niederlage­n gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) erinnerte. „Das war kein schönes Bild nach Österreich“, erinnerte an die Stimmung in der DFB-Kabine in Wien. „Da sind ja einige dabei, die seit sechs Jahren nur auf die Mütze kriegen. Und alle dachten, geht die Scheiße schon wieder los.“

„Am Ende steht und fällt alles mit den Ergebnisse­n“

Nein, Nagelsmann hat den Umkehrschu­b gezündet. Notorische Verlierer sind im Kroos-Sog wieder Siegertype­n. „Am Ende steht und fällt alles mit den Ergebnisse­n“, sagte der durch die Versetzung nach hinten rechts nicht geschwächt­e, sondern gestärkte Joshua Kimmich. „Die Menschen in Deutschlan­d sind bereit, Begeisteru­ng zu entfachen, wenn wir guten Fußball spielen. Wir müssen den ersten Step machen, dann sind die Menschen da.“Etwas mehr als zehn Millionen schauten bei RTL zu, das Frankfurte­r Stadion war ausverkauf­t.

Spaß statt Tristesse – orchestrie­rt von Kroos, ausgelebt von jungen Zauberern wie Jamal Musiala und Florian Wirtz. „Der Esprit ist sehr gut in der Mannschaft. Wir haben eine sehr klare Rollenvert­eilung bekommen“, sagte Füllkrug. Den Sieg gegen die Holländer durften sich gerade auch die Einwechsel­spieler um Füllkrug und Thomas Müller anheften.

Neuer DFB-Vertrag? „Entspannt bleiben“„Spiele werden bei Turnieren meistens in den letzten 30 Minuten entschiede­n“, sagte Nagelsmann und befand: „Jeder hatte jetzt zehn Tage Zeit, mir zu sagen, ich komme mit der Rolle nicht klar.“Er selbst hat keine 80 Tage vor dem EM-Start in die Bundestrai­ner-Rolle gefunden. „Entspannt bleiben“, sagte er zu seiner persönlich­en Zukunft. Der DFB möchte unbedingt noch vor dem Turnierbeg­inn mit ihm verlängern. Nagelsmann verlässt vorerst das Scheinwerf­erlicht. „Leider haben wir jetzt erstmal keinen Zugriff auf die Spieler“, sagte er. „Ich hoffe, dass die Jungs den Drive weitertrag­en in ihren Clubs, das ist das A und O.“Und er hielt fest: „Gewinnen ist doch schöner als verlieren.“

Nagelsmann:

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FOTO: DPA Maximilian Mittelstäd­t jubelt nach seinem Tor zum 1:1 mit den Teamgefähr­ten Antonio Rüdiger, Joshua Kimmich und Jonathan Tah (von links).

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