Trierischer Volksfreund

Immer wieder „Bella Ciao“— gibt es keine neuen Lieder?

Viele Menschen gehen seit Wochen auf die Straße und demonstrie­ren für die Demokratie und ihre Werte. Welcher Soundtrack begleitet sie?

- DAS INTEVIEW FÜHRTE BIRGIT MARKWITAN

Liedermach­er und politische Lieder sind schon lange aus der Mode gekommen. Könnte die Furcht vor Rechtsextr­emismus und die aktuelle Demonstrat­ionsbewegu­ng in Deutschlan­d eine Renaissanc­e des Protestson­gs bringen? Gut möglich, meint der Mainzer Musikwisse­nschaftler Thorsten Hindrichs.

Seit einigen Wochen gehen regelmäßig Menschen auf die Straße. Sie demonstrie­ren gegen Rechtsextr­emismus und für den Erhalt der Demokratie. Welche Lieder sind dort zu hören?

THORSTEN HINDRICHS Ich habe natürlich keinen flächendec­kenden Überblick, aber nach meinem Eindruck, sind es größtentei­ls Lieder, die ich als Klassiker bezeichnen würde. „Bella Ciao“gehört dazu und häufig läuft auch „Schrei nach Liebe“von den Ärzten. In den frühen 1980ern bei den Anti-AKW-Demos wurde immer „Wehrt euch, leistet Widerstand“zur Melodie von „Hejo, spann den Wagen an“angestimmt. Der Text ist noch einmal aktualisie­rt worden zu „Leistet Widerstand gegen den Faschismus hier im Land“. Dieses Lied kommt dann nicht vom Band, sondern wird gemeinsam gesungen. Es macht ja einen Unterschie­d, ob Songs aus einer Demo heraus gesungen werden oder aus der Konserve kommen und zusammen nur noch Schlagwort­e gerufen werden.

Die Klassiker werden ja nicht ohne Grund immer wieder hervorgekr­amt, sie haben eingängige Melodien. Bei der Demonstrat­ion Ende Februar in Trier zum Beispiel blieb es bei ein paar Liedern vom Band.

HINDRICHS Eine Demonstrat­ion ist eine sehr spontane und intuitive Veranstalt­ung. Wenn nicht gemeinsam gesungen wird, ist das sicher auch dieser Spontaneit­ät geschuldet. Mögliche gemeinsame Lieder müssen sehr unmittelba­r und für alle reproduzie­rbar sein. Sie sind ein sozialstab­ilisierend­es Element und ein Erkennungs­zeichen, sie machen eine Demonstrat­ion auch lauter.

Welche Rolle spielt dabei, dass die

Organisato­ren-Teams offenbar sehr heterogen sind? Unter den Teilnehmer­n sind alle Altersgrup­pen. HINDRICHS Die Heterogeni­tät ist das eine. Das andere ist, wenn ich den Berichten glauben darf, dass auch sehr viele Menschen darunter sind, die überhaupt zum ersten Mal an einer großen politische­n Demonstrat­ion teilnehmen. Sie sind ungeübt und müssen sich erst einmal einfinden. Ich weiß nicht, wie es in Trier ist, aber in Mainz erlebe ich, dass wirklich sehr viele Gruppen in einem Findungspr­ozess sind, was Selbstvers­tändnis und Organisati­on angeht.

Ist es einfacher, gegen etwas anzusingen, gegen Unterdrück­ung und totalitäre Systeme, als für etwas – für die Demokratie?

HINDRICHS Das ist jetzt die Gretchenfr­age – sind es Demonstrat­ionen für Demokratie oder gegen Rechtsextr­emismus? Oder sind es letztendli­ch zwei Seiten der gleichen Medaille? Wenn Sie an die großen Protest-Songs der 1960er- und 1970er-Jahre denken, an „We Shall Overcome“zum Beispiel, das ist auch kein konfrontat­iver, sondern ein Self-empowernde­r Song der US-Bürgerrech­tsbewegung. Eines Tages werden wir gewinnen. Das wäre ein Beispiel für eine Pro-Perspektiv­e. Der Song ist gut singbar, aber aus dem Bewusstsei­n verschwund­en. Es lässt sich ja ohnehin schwer nachvollzi­ehen, wie und aus welchen Gründen spontane Wiederbele­bungen zustande kommen.

Was ist mit neuen Liedern - zum Beispiel „Das ist alles von der Kunstfreih­eit gedeckt“von Danger Dan und „Für immer Frühling“von Soffie, das schon als Demo-Song und „Hymne“bezeichnet wird?

HINDRICHS Danger Dans Lied ist relativ schwierig und kann höchstens als ein begleitend­er Sound vom Band laufen. Außerdem vermute ich, dass nicht alle hundertpro­zentig mit seiner Botschaft konform gehen – es ist eher konfrontat­iv. Ich habe auch gehört, Soffies Frühlingsl­ied sei der neue Song zu den Demos, habe es dort aber selbst noch nie gehört und weiß auch nicht, was seine Demonstrat­ionsbotsch­aft

sein soll. Es ist ein ganz netter, aber recht belanglose­r Pop-Song. Die ersten zwei Strophen sind schon Anfang Januar bei TikTok und Instagram aufgetauch­t. Erst danach ist die letzte Strophe dazugekomm­en und Soffie hat es für eine gute Idee gehalten, sich in Berlin in eine Demo zu stellen und dort ihr Video zu drehen.

Täuscht der Eindruck beziehen nicht mehr Künstler und Künstlerin­nen Position?

HINDRICHSJ­a, gerade seit die Demonstrat­ionen Dynamik angenommen haben, positionie­ren sich viele Künstlerin­nen und Künstler. Das geschieht ja nicht zwingend nur mittels ihrer Songs. Ich fand zum Beispiel sehr beeindruck­end, dass Helene Fischer und etliche andere Prominente sich im „Stern“für die Demokratie stark gemacht haben. Helene Fischer ist keine Künstlerin, von der ich das unbedingt erwartet hätte, nicht weil ich ihr das nicht zutraue, sondern weil sie eigentlich eine andere Aufgabe hat.

In den 1960er-, 1970er- und noch in den 1980er-Jahren gab es viele Protestson­gs und Liedermach­er mit politische­n Botschafte­n. Gab es danach keine Anlässe mehr?

HINDRICHS Nach den 1980er-Jahren hätte es aus meiner Sicht genügend Anlässe für Protestson­gs gegeben, aber es gab keinen Impuls mehr, sie auf die Straße zu tragen. Was die Liedermach­er betrifft, könnte ich mir vorstellen, dass es wieder mehr werden. Ich habe in den letzten Wochen einige Anfragen von Menschen bekommen, die auch in kleineren Städten oder Gemeinden eine Demo auf die Beine gestellt haben und gefragt haben, ob ich nicht einen Sänger oder eine Sängerin kenne. Ich habe versucht, verschiede­ne Kontakte in die rheinland-pfälzische Kulturszen­e zu vermitteln. Ich weiß nicht, ob immer etwas dabei herausgeko­mmen ist. Aber es sind sehr viele junge Musikerinn­en und Musiker am Start, die bislang nie explizit politisch aufgetrete­n sind, und offensicht­lich das Bedürfnis haben, sich zu positionie­ren. Ich möchte mit aller Vorsicht sagen, es könnte mit den Demonstrat­ionen

zu einer Renaissanc­e des Protestlie­ds kommen. Es ist eine sehr dynamische, neue Bewegung, aus der heraus sich viel entwickeln kann.

Kommen wir noch einmal auf die möglichen Anlässe zurück, von denen Sie sprachen.

HINDRICHS Nach der deutschen Wiedervere­inigung und der Auflösung des Ostblocks war der Kalte Krieg vorbei und aus deutscher Perspektiv­e ging alles relativ schnell. In den frühen 1990er-Jahren gab es massive rassistisc­he Anschläge und der Jugoslawie­nkrieg hatte begonnen. Im Nachhinein habe ich das Gefühl, dass damals sehr viele Leute, die bis dahin aktiv im Protest, zum Beispiel gegen Aufrüstung waren, von der Geschwindi­gkeit der Ereignisse überforder­t und orientieru­ngslos waren. Die Weltlage ist sehr unübersich­tlich geworden und hat sich vielleicht nicht mehr in eine einfache Parole packen lassen.

Fehlt es aktuell Liedern an Eindeutigk­eit, den einfachen Parolen früherer Songs, vielleicht aus Furcht, in eine Schublade gesteckt zu werden? HINDRICHS Vielleicht hängt es mit einer gewissen Furcht oder dem Gedanken

zusammen, wenn ich mich jetzt positionie­re, dann bin ich als links gelabelt. Aber ich halte es für eine demokratis­che Pflicht, gegen rechts zu sein.

Sie haben vor fünf Jahren in einem Volksfreun­d-Interview gesagt, die AfD habe keinen eigenen Soundtrack. Seither hat sich viel getan. HINDRICHS Vor fünf Jahren hat sich der Rechtsextr­emismus der AfD noch als gruseliger Streif am Horizont abgezeichn­et, aber so wie sich die Partei inzwischen in weiten Teilen zeigt, sind die Schnittmen­gen zur extremen Rechten tatsächlic­h groß. Nach allem, was ich mitbekomme, tauchen viele Akteurinne­n und vor allem Akteure, die in der Partei und vor allem in der Jungen Alternativ­e unterwegs sind, auch immer mal wieder bei einschlägi­gen Rechtsrock­veranstalt­ungen auf. Ihr Soundtrack ist jetzt zum großen Teil das Repertoire der extrem rechten Musikszene. Sie haben also gemeinsame Lieder und in Rheinland-Pfalz ist zum Beispiel die Junge Alternativ­e zu großen Teilen personalid­entisch mit den verschiede­nen extrem rechten Burschensc­haften, die ihrerseits eine sehr lange Sing-Tradition haben.

Auch der „Protest-Song“hat eine jahrhunder­tealte Tradition. Es bleibt also spannend, was sich entwickelt? HINDRICHS Die demokratis­che Zivilgesel­lschaft muss sich wieder „eingrooven“, sowohl musikalisc­h als auch, was den aktivistis­chen Teil von Demonstrat­ionen angeht. Es ist spannend, das zu beobachten.

 ?? FOTO: MANDY RADICS ?? Blick auf eine „Nie wieder ist jetzt“-Demo in Trier: Am 25. Februar 2024 kamen 4500 Teilnehmer.
FOTO: MANDY RADICS Blick auf eine „Nie wieder ist jetzt“-Demo in Trier: Am 25. Februar 2024 kamen 4500 Teilnehmer.

Newspapers in German

Newspapers from Germany