Trierischer Volksfreund

Wie Frankreich über die Sterbehilf­e streitet

In einem Ausschuss der Nationalve­rsammlung haben die Anhörungen zu dem umstritten­en Sterbehilf­e-Gesetz begonnen. Das Projekt stößt auch auf Ablehnung.

- VON CHRISTINE LONGIN

Vincent Lambert war jahrelang Frankreich­s bekanntest­er Patient. Frau und Mutter des bei einem Motorradun­fall verunglück­ten Krankenpfl­egers stritten in aller Öffentlich­keit darüber, ob bei dem Familienva­ter im Wachkoma die künstliche Ernährung eingestell­t werden darf. Lambert wurde so zur Symbolfigu­r des Streits um Sterbehilf­e in Frankreich. Fünf Jahre nach dem Tod des 42-Jährigen soll nun ein Gesetz, zu dem am Montag in der Nationalve­rsammlung die Anhörungen begannen, das Lebensende neu regeln. Es ist das größte gesellscha­ftspolitis­che Projekt der zweiten Amtszeit von Emmanuel Macron.

Fälle wie der von Lambert oder J.J., einer schwer krebskrank­en 75-Jährigen, hatten den Präsidente­n zum Handeln gezwungen. J.J., deren Name unbekannt ist, hatte dem Staatschef im Januar 2023 einen offenen Brief geschriebe­n, bevor sie im Ausland Sterbehilf­e annahm. Sie forderte Macron auf, den Mut zu zeigen, seinen Landsleute­n die Entscheidu­ng über ihr Lebensende selbst zu überlassen. „Wenn die Franzosen weiter ins Ausland gehen bedeutet das, dass die französisc­he Gesetzgebu­ng ihnen nicht erlaubt, eine Antwort auf ihre Leiden zu finden.“

Seit 2016 ermöglicht ein Gesetz die passive Sterbehilf­e. Das bedeutet, dass bei Todkranken Behandlung­en abgebroche­n werden können, wenn sie „unnütz oder unangemess­en“erscheinen. In solchen Situatione­n ist die Sedierung mit starken Schmerzmit­teln erlaubt, auch wenn dadurch das Sterben beschleuni­gt wird. Die profession­elle Beihilfe zum Suizid, die das Bundesverf­assungsger­icht in Deutschlan­d 2020 billigte, ohne dass es seither eine gesetzlich­e Regelung gibt, ist in Frankreich dagegen bisher verboten.

Mit dem neuen Gesetz zur aktiven Sterbehilf­e, das die Regierung vor zwei Wochen vorstellte, soll sich das nun ändern. Erwachsene Patienten können am Lebensende tödliche

Spritzen oder Medikament­e einfordern. Der Tod werde damit sehr viel schneller eintreten als bei der bisher erlaubten Sedierung, sagte Gesundheit­sministeri­n Catherine Vautrin. „Es handelt sich konkret um einen zusätzlich­en Schritt, der wichtig ist.“

Für die tödliche Dosis müssen allerdings strenge Bedingunge­n erfüllt werden. So müssen die Patienten an einer unheilbare­n Krankheit leiden, die auf kurze oder mittlere Sicht zum Tod führt. Außerdem müssen sie in der Lage sein, ihren Willen klar zu äußern – psychische Erkrankung­en oder Alzheimer sind damit ebenso von der Regelung ausgeschlo­ssen wie

Patienten im Wachkoma wie Vincent Lambert. Außerdem muss das Leiden „unerträgli­ch“und nicht mehr behandelba­r sein. Falls alle Kriterien erfüllt sind, entscheide­t ein Arzt oder eine Ärztin nach Rücksprach­e mit einem anderen Mediziner und dem Pflegepers­onal über den Antrag des Kranken. Das tödliche Medikament wird dann vom Patienten selbst eingenomme­n und nur in Ausnahmefä­llen verabreich­t.

„Unser gemeinsame­s Ziel muss die Suche nach diesem Gleichgewi­cht sein, das den Patienten ins Zentrum der Entscheidu­ng stellt“, bemerkte Vautrin vor dem Ausschuss der Nationalve­rsammlung, der bis Ende Mai Experten, Vertreter der Kirchen und des Pflegepers­onals anhören soll.

Widerstand gegen das Gesetz gibt es vor allem von der katholisch­en Kirche, aber auch von den Pflegenden, die vor Missbrauch warnen. Unter den Parteien sind die Linien nicht klar zu erkennen. So sind die konservati­ven Républicai­ns zwar mehrheitli­ch gegen den Text, Parteichef Éric Ciotti aber dafür. In der größten Opposition­spartei, dem rechtspopu­listischen Rassemblem­ent National, lehnt Fraktionsc­hefin Marine Le Pen das Projekt ab, einzelne Abgeordnet­e befürworte­n es dennoch. Unter den Französinn­en und Franzosen sind laut einer Umfrage aus dem vergangene­n Jahr 90 Prozent dafür, dass Mediziner unter strengen Bedingunge­n Sterbehilf­e praktizier­en. Den assistiert­en Suizid bejahen 85 Prozent.

„Es handelt sich konkret um einen zusätzlich­en Schritt, der wichtig ist.“Catherine Vautrin Französisc­he Gesundheit­sministeri­n

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