Trierischer Volksfreund

Die Stimmung und die Lage

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Zurück von Besuchen in Bayern und Niedersach­sen. In typischen Klein- und Mittelstäd­ten. Viele Neubaugebi­ete sind entstanden, die Häuser doppelt so groß wie früher. Davor oft zwei Autos, mindestens eins elektrisch. Wärmepumpe­n. Umgehungss­traßen werden gebaut, Gewerbegeb­iete erschlosse­n. Die Innenstädt­e sind voll. In den Fußgängerz­onen reges Treiben. Viele sitzen in der Frühlingss­onne bei Kaffee oder Aperol. Gläserne Büround Shoppingpa­läste; man erkennt seine Heimat kaum wieder. Und in den Vororten moderne Wohnblocks mit großen Terrassen. Der Versuch, einen Restaurant­platz für den Abend zu bekommen, scheitert. „Ausgebucht“. Überall sieht man Schilder: Personal gesucht.

Oh, den Deutschen geht es schlecht. Sehr schlecht. Manche Wirtschaft­sverbände und Opposition­sparteien rufen permanent die Katastroph­e aus. Die Abwanderun­g der Unternehme­n, den Niedergang von „Made in Germany“, das Ende des Wohlstande­s, den „Ampel-Stillstand“. Und im Netz schreien welche, wir würden von „Verbrecher­n“regiert. Man fragt sich, warum die Stimmung so sehr von der Wirklichke­it abweicht. Wie es Menschen schaffen, gleichzeit­ig gut zu leben und sich schlecht zu fühlen. Ein Land zu hassen, das ihnen dieses Konsumnive­au ermöglicht. Und auch noch eine exzellente Gesundheit­sversorgun­g, gratis Bildung und Betreuung, Schutz vor Armut, gute Renten, eine unabhängig­e Justiz, innere Sicherheit und eine korruption­sfreie Verwaltung.

Die Antwort ist: Gerade, weil es ihnen so gut geht, wissen die Leute nicht mehr zu schätzen, was sie haben. Sie halten den erreichten Standard für normal – und wollen immer mehr. Und sie suchen Schuldige, wenn das nicht klappt. Das kann ich als Reflex verstehen, wenn zum Beispiel das Benzin teurer wird. Aber so richtig erklären kann ich mir doch nicht, warum so viele dann gleich das ganze System wegzuwerfe­n bereit sind, das all diesen Wohlstand erst ermöglicht hat: die Demokratie. Die Toleranz. Die Vielfalt. Den sozialen Frieden. Dass sie sogar Leute wählen, die sich von Russland oder China bezahlen lassen. Ich glaube, viele denken einfach nicht genug nach.

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Vincent Bauer, Michaela Heinze Ulrich Brenner Produktion dieser Seite:

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