Trierischer Volksfreund

Selbst die Täter greifen zum Hörer

Immer mehr Betroffene wenden sich bei sexuellem Missbrauch an das Hilfetelef­on. Das Angebot gibt es seit zehn Jahren.

- VON HOLGER MÖHLE

Ein Hinterhof-Loft in BerlinKreu­zberg. Helle Räume, vier Telefone, zwei Berater, ein Thema: sexueller Kindesmiss­brauch. Es geht um Verbrechen an denen, die den Schutz von Erwachsene­n am dringendst­en brauchen. Wer zwischen den Gesprächen durchatmen muss, steigt rauf auf die Dachterras­se. „Nach fünf

Stunden am Telefon ist man ziemlich durch“, sagt Sabine B., eine der Beraterinn­en, die anonym bleibt, weil für das Hilfetelef­on generell gilt: „Wir arbeiten anonym.“50 000 Anrufe haben die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r angenommen, seit das Hilfetelef­on Sexueller Missbrauch vor exakt zehn Jahren freigescha­ltet worden ist. Darunter auch Anrufe wie dieser, der in diesem Fall gestellt ist. Eine Mutter meldet sich, ihre Tochter, 13 Jahre alt, habe von einer

Freundin gehört, dass ihr Sportlehre­r nach dem Unterricht die MädchenUmk­leide betreten habe, angeblich, weil er seine Uhr suche. Die Mädchen halb bekleidet, der Lehrer lässt den Blick schweifen – vielleicht nicht nur nach der Uhr.

Zum Start des Hilfetelef­ons Sexueller Missbrauch vor zehn Jahren mit den Standorten Berlin und Kiel ist die Unabhängig­e Beauftragt­e für Fragen des sexuellen Missbrauch­s, Kerstin Claus, in die Räume des Vereins N.I.N.A. (Nationale Infoline, Netzwerk und Anlaufstel­le zu sexualisie­rter Gewalt an Mädchen und Jungen) gekommen. Claus sagt: „Wir müssen begreifen, dass sexuelle Gewalt stattfinde­t, dass sie in unserer Umgebung stattfinde­t.“Beraterin Sabine B.: „Überwiegen­d passiert es im engsten Familienkr­eis.“Sie erzählt, dass auch Täter bei ihr anriefen. Der Vater, der ihr am Telefon berichtet, dass er sich an der eigenen Tochter vergehe und davon nicht lassen könne. Nur warum ruft der Täter bei der Telefonhot­line an, die wiederum Kinder schützen soll? „Sie wollen Absolution, hören, dass es nicht so schlimm sei.“Sabine B. sagt dann: „Wir schützen Kinder, nicht die Täter.“Silke Noack, Leiterin des bundesweit­en Hilfetelef­ons und geschäftsf­ührende Vorsitzend­e von N.I.N.A., sagt über die Schwelle, die Anrufer oft überwinden müssen: „Lieber rufen Sie doch beim PizzaBring­dienst an als beim Hilfetelef­on.“Aber wenn jemand „ein komisches Gefühl“habe, dass bei einem Kind etwas nicht stimmen könnte,

dass es womöglich sexuell missbrauch­t werde, „damit laufen Sie nicht zum Jugendamt, damit laufen Sie nicht zur Polizei“.

Das bundesweit­e Hilfetelef­on will niedrigsch­wellig helfen, zuhören, auf Vertrauens­stellen oder Fachleute am Wohnort verweisen und das Kind aus der Schusslini­e nehmen – bis zu einer eventuelle­n Hauptverha­ndlung. Zehn Jahre zuhören und beraten. Ein Service, den die HilfeHotli­ne in mittlerwei­le 19 Sprachen

anbietet, auch in Gebärdensp­rache für Gehörlose.

Beraterin Sabine B. sagt: „Betroffene haben lebenslang damit zu tun.“Die Polizeilic­he Kriminalst­atistik weist für 2023 insgesamt 16 375 Fälle des sexuellen Missbrauch­s von Kindern aus. Und das ist nur das Hellfeld. Das Dunkelfeld gilt als weitaus größer. Auch deshalb will Claus repräsenta­tiv in die neunten Klassen in allen 16 Bundesländ­ern zur Befragung gehen.

Die Unabhängig­e Beauftragt­e Claus hofft, dass ihr Amt, organisato­risch angesiedel­t beim Bundesfami­lienminist­erium, bald dauerhaft per Gesetz verankert wird. Demnächst will das Bundeskabi­nett sich damit befassen.

Das Hilfetelef­on Sexueller Missbrauch

ist montags, mittwochs und freitags von 9 bis 14 Uhr sowie dienstags und donnerstag­s von 15 bis 20 Uhr unter Tel. (0800) 22 55 530 erreichbar.

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FOTO: JENS KALAENE/DPA Rund 50 000 Beratungen hat es in den vergangene­n zehn Jahren durch das Hilfetelef­on Sexueller Missbrauch gegeben. Seit 2021 gibt es auch eine Online-Beratung.
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FOTO: KALAENE/DPA Kerstin Claus ist seit Ende 2022 Unabhängig­e Beauftragt­e für Fragen des sexuellen Missbrauch­s.

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