Wenn der Notfall zur Normalität wird
Ärzte in der Notfallaufnahme hatten im zweiten Halbjahr 2016 13 500 Fälle abzuarbeiten
TUTTLINGEN - In der Notaufnahme am Klinikum Landkreis Tuttlingen am Standort in Tuttlingen geht es teilweise zu wie im Taubenschlag. Im vergangenen Halbjahr kamen fast 13 500 Patienten mit den unterschiedlichsten Anliegen dort an. Doch: Viele von ihnen gehören eigentlich zum Hausarzt und nicht in die Notaufnahme.
„Das ist ein gesellschaftliches Grundproblem“, sagt Dr. Barbara Bahr, ärztliche Leiterin der Notaufnahme in Tuttlingen. Zum einen würden die Menschen immer weniger Kenntnisse über körperliche Wehwehchen haben, zum anderen gebe es immer weniger niedergelassene Ärzte, bei denen zeitnah ein Termin zu bekommen ist. Daher plädiert sie dafür, schon in der Grundschule, besser noch im Kindergarten, die Kinder auf körperliche Symptome hinzuweisen, die nicht gleich lebensbedrohlich sind. Auch Vorträge, die das Klinikum für die Öffentlichkeit anbietet, seien sinnvoll, um Kompetenzen bei den Patienten zu entwickeln.
„Für die Patienten ist die eigene Erkrankung immer die wichtigste“, sagt Barbara Bahr. Die Notaufnahme könne sie aber nicht einfach wegschicken, beispielsweise auch wenn die Symptome schon so lange bestehen, dass ein normaler Arztbesuch hätte koordiniert werden können und keine Gefahr für den Patienten besteht, oder die Symptome etwa auf einen Schnupfen oder eine MagenDarm-Grippe hindeuten. „Die kassenärztliche Vereinigung sagt uns zwar, dass wir die Patienten wegschicken sollen, die Verantwortung liegt aber dennoch bei uns“, macht die Ärztin auf das Dilemma in der Notaufnahme aufmerksam. Fälle werden eingestuft Immer wieder gibt es in der Notaufnahme in Tuttlingen zudem Unmut bei den Patienten über längere Wartezeiten. Nach dem so genannten „Manchester Triage System“werden die Fälle in fünf Kategorien eingeteilt und die schweren Fälle zuerst abgearbeitet. „Die Schwestern sind angehalten, die Patienten darauf hinzuweisen“, betont Barbara Bahr. Zudem ist das Wissen darüber, dass am anderen Ende der Notaufnahme in Tuttlingen die Rettungsfahrzeuge ebenfalls Patienten bringen, vielfach nicht vorhanden.
Nicht immer zeigen sich die Patienten oder deren Angehörige einsichtig über längere Wartezeiten. Das hat jetzt auch das SchwarzwaldBaar-Klinikum (SBK) in VillingenSchwenningen dazu bewogen, die Aufnahme in der Notaufnahme nicht mehr offen zu gestalten, sondern die Schwestern hinter eine Glasabtrennung zu setzen. „Es waren Übergriffe und Beschimpfungen, die dazu geführt haben. Wir haben das zum Schutz unserer Mitarbeiter gemacht“, betont Sandra Adams, die im SBK für die Unternehmenskommunikation zuständig ist.
Auch in Villingen-Schwenningen ist der Zustrom in die Notaufnahme gravierend. „Wir haben täglich zwischen 120 und 160 Patienten“, berichtet Adams. Davon würden aber lediglich rund 50 Prozent stationär eingewiesen: „Es sind etliche dabei, die zum Hausarzt gehören“, sagt auch sie.
Aus diesem Grund hält Barbara Bahr eine Poliklinik, also eine Abteilung für die ambulante Untersuchung und Behandlung von Patienten für sinnvoll, die die Patienten filtern könnte. Elena Niggemann, Marketingleiterin am Klinikum Landkreis Tuttlingen, bringt auch den ärztlichen Bereitschaftsdienst der kassenärztlichen Vereinigung ins Spiel: „Viele kennen dieses Angebot gar nicht“, sagt sie.
Die Notfallpraxis, die niedergelassene Ärzte in den Räumlichkeiten des Klinikums Anfang 2014 eröffnet haben, federe den Zustrom von Patienten in die Notaufnahme laut Barbara Bahr zwar etwas ab. Dennoch hänge es auch davon ab, welcher Arzt dort Dienst hat. So könne ein Augenarzt einen Hausarzt nicht unbedingt ersetzen. Barbara Bahr plädiert daher für eine deutlich bessere Vernetzung von niedergelassenen Ärzten und dem Klinikum: „Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen und müssen viel mehr zusammenarbeiten“, sagt sie. Auch hierdurch gebe es Möglichkeiten das Gesundheitssystem finanzierbar zu halten: „Gesundheit ist ein Recht des Menschen“, sagt sie. Es sei ein Fehler, nur auf die finanzielle Schiene zu achten. „Es wäre gut, wenn die Patienten, ähnlich wie bei Privatpatienten üblich, die Kosten für die Behandlung kennen würden“, sagt Barbara Bahr. So würde das Klinikum etwa bei der Untersuchung von Bauchschmerzen zum Ultraschall und zum Röntgen greifen und das Labor hinzuziehen. Die Ärztin ist sich sicher, dass die Patienten Verständnis dafür bekommen würden, dass ein Besuch in der Notaufnahme nicht in jedem Fall notwendig ist: „Das wäre ein Versuch wert“, sagt sie. Keine Zeit zum Ausruhen Vom Schnupfen bis zum Schwerverletzten hätten die Ärzte in der Notaufnahme zu behandeln. An vielen Arbeitstagen sei das Team bis aufs Äußerste ausgelastet – gerade in Ferienzeiten, zu Weihnachten und zu Silvester. Also dann, wenn viele Hausarztpraxen geschlossen haben. Auch am Wochenende herrsche in der Notaufnahme ein stetes Kommen und Gehen: „Früher waren die Dienste auch mal ruhiger, das ist heute nicht mehr so.“