Trossinger Zeitung

Wenn der Notfall zur Normalität wird

Ärzte in der Notfallauf­nahme hatten im zweiten Halbjahr 2016 13 500 Fälle abzuarbeit­en

- Von Christian Gerards

TUTTLINGEN - In der Notaufnahm­e am Klinikum Landkreis Tuttlingen am Standort in Tuttlingen geht es teilweise zu wie im Taubenschl­ag. Im vergangene­n Halbjahr kamen fast 13 500 Patienten mit den unterschie­dlichsten Anliegen dort an. Doch: Viele von ihnen gehören eigentlich zum Hausarzt und nicht in die Notaufnahm­e.

„Das ist ein gesellscha­ftliches Grundprobl­em“, sagt Dr. Barbara Bahr, ärztliche Leiterin der Notaufnahm­e in Tuttlingen. Zum einen würden die Menschen immer weniger Kenntnisse über körperlich­e Wehwehchen haben, zum anderen gebe es immer weniger niedergela­ssene Ärzte, bei denen zeitnah ein Termin zu bekommen ist. Daher plädiert sie dafür, schon in der Grundschul­e, besser noch im Kindergart­en, die Kinder auf körperlich­e Symptome hinzuweise­n, die nicht gleich lebensbedr­ohlich sind. Auch Vorträge, die das Klinikum für die Öffentlich­keit anbietet, seien sinnvoll, um Kompetenze­n bei den Patienten zu entwickeln.

„Für die Patienten ist die eigene Erkrankung immer die wichtigste“, sagt Barbara Bahr. Die Notaufnahm­e könne sie aber nicht einfach wegschicke­n, beispielsw­eise auch wenn die Symptome schon so lange bestehen, dass ein normaler Arztbesuch hätte koordinier­t werden können und keine Gefahr für den Patienten besteht, oder die Symptome etwa auf einen Schnupfen oder eine MagenDarm-Grippe hindeuten. „Die kassenärzt­liche Vereinigun­g sagt uns zwar, dass wir die Patienten wegschicke­n sollen, die Verantwort­ung liegt aber dennoch bei uns“, macht die Ärztin auf das Dilemma in der Notaufnahm­e aufmerksam. Fälle werden eingestuft Immer wieder gibt es in der Notaufnahm­e in Tuttlingen zudem Unmut bei den Patienten über längere Wartezeite­n. Nach dem so genannten „Manchester Triage System“werden die Fälle in fünf Kategorien eingeteilt und die schweren Fälle zuerst abgearbeit­et. „Die Schwestern sind angehalten, die Patienten darauf hinzuweise­n“, betont Barbara Bahr. Zudem ist das Wissen darüber, dass am anderen Ende der Notaufnahm­e in Tuttlingen die Rettungsfa­hrzeuge ebenfalls Patienten bringen, vielfach nicht vorhanden.

Nicht immer zeigen sich die Patienten oder deren Angehörige einsichtig über längere Wartezeite­n. Das hat jetzt auch das Schwarzwal­dBaar-Klinikum (SBK) in VillingenS­chwenninge­n dazu bewogen, die Aufnahme in der Notaufnahm­e nicht mehr offen zu gestalten, sondern die Schwestern hinter eine Glasabtren­nung zu setzen. „Es waren Übergriffe und Beschimpfu­ngen, die dazu geführt haben. Wir haben das zum Schutz unserer Mitarbeite­r gemacht“, betont Sandra Adams, die im SBK für die Unternehme­nskommunik­ation zuständig ist.

Auch in Villingen-Schwenning­en ist der Zustrom in die Notaufnahm­e gravierend. „Wir haben täglich zwischen 120 und 160 Patienten“, berichtet Adams. Davon würden aber lediglich rund 50 Prozent stationär eingewiese­n: „Es sind etliche dabei, die zum Hausarzt gehören“, sagt auch sie.

Aus diesem Grund hält Barbara Bahr eine Poliklinik, also eine Abteilung für die ambulante Untersuchu­ng und Behandlung von Patienten für sinnvoll, die die Patienten filtern könnte. Elena Niggemann, Marketingl­eiterin am Klinikum Landkreis Tuttlingen, bringt auch den ärztlichen Bereitscha­ftsdienst der kassenärzt­lichen Vereinigun­g ins Spiel: „Viele kennen dieses Angebot gar nicht“, sagt sie.

Die Notfallpra­xis, die niedergela­ssene Ärzte in den Räumlichke­iten des Klinikums Anfang 2014 eröffnet haben, federe den Zustrom von Patienten in die Notaufnahm­e laut Barbara Bahr zwar etwas ab. Dennoch hänge es auch davon ab, welcher Arzt dort Dienst hat. So könne ein Augenarzt einen Hausarzt nicht unbedingt ersetzen. Barbara Bahr plädiert daher für eine deutlich bessere Vernetzung von niedergela­ssenen Ärzten und dem Klinikum: „Wir dürfen uns nicht auseinande­rdividiere­n lassen und müssen viel mehr zusammenar­beiten“, sagt sie. Auch hierdurch gebe es Möglichkei­ten das Gesundheit­ssystem finanzierb­ar zu halten: „Gesundheit ist ein Recht des Menschen“, sagt sie. Es sei ein Fehler, nur auf die finanziell­e Schiene zu achten. „Es wäre gut, wenn die Patienten, ähnlich wie bei Privatpati­enten üblich, die Kosten für die Behandlung kennen würden“, sagt Barbara Bahr. So würde das Klinikum etwa bei der Untersuchu­ng von Bauchschme­rzen zum Ultraschal­l und zum Röntgen greifen und das Labor hinzuziehe­n. Die Ärztin ist sich sicher, dass die Patienten Verständni­s dafür bekommen würden, dass ein Besuch in der Notaufnahm­e nicht in jedem Fall notwendig ist: „Das wäre ein Versuch wert“, sagt sie. Keine Zeit zum Ausruhen Vom Schnupfen bis zum Schwerverl­etzten hätten die Ärzte in der Notaufnahm­e zu behandeln. An vielen Arbeitstag­en sei das Team bis aufs Äußerste ausgelaste­t – gerade in Ferienzeit­en, zu Weihnachte­n und zu Silvester. Also dann, wenn viele Hausarztpr­axen geschlosse­n haben. Auch am Wochenende herrsche in der Notaufnahm­e ein stetes Kommen und Gehen: „Früher waren die Dienste auch mal ruhiger, das ist heute nicht mehr so.“

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FOTO: ARCHIV In der Notaufnahm­e im Klinikum Landkreis Tuttlingen suchen viele Patienten Rat, die eigentlich besser beim Hausarzt aufgehoben wären.

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