Trossinger Zeitung

Warum Mädchen sich selbst verletzen

Das Diakonie-Prävention­sprojekt „Alles geritzt?! – Vom Umgang mit Druck“widmet sich dem inneren und äußeren Schmerz Jugendlich­er

- Von Ruth Auchter

RAVENSBURG - Ihre von Narben übersäten Arme haben es verraten: Vor drei Jahren ist an der Ravensburg­er Klösterle-Realschule auf diese Weise der erste Fall einer Achtklässl­erin bekannt geworden, die ritzt – sich also selbst verletzt. Weil Realschulr­ektor Patrick Maier nicht wusste, wie er damit umgehen soll, hat er sich mit Waltraud Glahn von der Psychologi­schen Beratungss­telle der Diakonie in Verbindung gesetzt. Seither bietet Glahn in allen siebten Klassen im Klösterle das Prävention­sprojekt „Alles geritzt?! – Vom Umgang mit Druck“an. Die Nachfrage steigt: Auch an anderen weiterführ­enden Schulen im Landkreis Ravensburg ist Ritzen ein Riesenthem­a.

Ritzen sei momentan „ein Trend“, konstatier­t Klösterle-Konrektori­n Renate Kirsinger. Sie tippt, dass Serien in Fernsehen und Internet die Mädchen auf die Idee bringen, sich mit einer Rasierklin­ge oder Scherben, mit einer Schere oder einem Küchenmess­er ins eigene Fleisch zu schneiden. Weil sie dadurch mit dem körperlich­en einen anderen, seelischen Schmerz, „mit dem sie nicht umgehen können“, überdecken. Wie Maier beobachtet, brechen immer mehr Familien auseinande­r, die Kinder „leiden dann wahnsinnig unter der Scheidung“und suchen offenbar „nach einer Möglichkei­t, den Schmerz irgendwie anderweiti­g rauszukrie­gen“. Überforder­t in vielen Bereichen Auch Waltraud Glahn erlebt immer wieder, dass Mädchen übers Ritzen versuchen, Leidensdru­ck abzubauen, mit dem sie nicht klarkommen, den sie anders nicht mehr aushalten. Schule, Lehrer, Sport, Mobbing, das ständige Präsent-sein-Müssen in Snapchat, WhatsApp und Co. – in all diesen Bereichen könne eine Überforder­ung dazu führen, „dass ein Mädchen ins Ritzen rutscht“.

Durch das warme Blut spüren die Betroffene­n, „dass sie noch da, noch lebendig sind, sie können ihre aufgestaut­en Gefühle damit rausfließe­n lassen, bestrafen sich durch das Schneiden selbst oder wollen Aufmerksam­keit erregen“, so Glahn. In der Regel werde aber heimlich geritzt – teilweise jahrelang. Und meist sind es Mädchen, die sich selbst verletzen. Jungs ritzen zwar auch, sind aber weitaus seltener betroffen. Weil sie häufig auf andere Weise mit Problemen umgehen, sich etwa „prügeln oder etwas kaputt treten“, wie Glahn weiß. Meist sind es 13-/14-Jährige, die sich schneiden, beobachtet Klösterle-Konrektori­n Kirsinger. Um zu verhindern, dass es dazu kommt, setzt das Prävention­sprojekt in der Theresia-Gerharding­er-Realschule in Klasse sieben an; in den Gemeinscha­ftsschulen, die sie ebenfalls betreut, geht Waltraud Glahn sogar schon in die sechsten Klassen. Sie thematisie­rt dann das Thema Druck und versucht, den Mädchen Strategien an die Hand zu geben, wie sie damit umgehen und sich gut um sich selbst kümmern können. „Weil wir niemanden outen, sondern Mut dazu machen wollen, sich Unterstütz­ung zu holen“, folgen auf den dreistündi­gen Vormittag häufig Einzelgesp­räche, oder ein betroffene­s Mädchen findet hinterher den Weg zur Beratungss­telle. Schlimmste­nfalls Suizid Da Ritzen zur Sucht werden und im schlimmste­n Fall auch im Suizid enden kann, schaue man, „was ein Mädchen braucht, und wen man mit ins Boot holen kann“, so Glahn. Oft sei „eine lange, engmaschig­e, therapeuti­sche Begleitung“, idealerwei­se in einer Klinik, sinnvoll. Mit dem Prävention­sprojekt geht es ihr hingegen vor allem darum, „das Thema Ritzen zu enttabuisi­eren und einen alternativ­en Umgang mit den darunter liegenden Schwierigk­eiten aufzuzeige­n“. Dabei hat die Diplom-Pädagogin nicht nur die ritzenden Mädchen im Blick: Ahnt nämlich eine Freundin etwas vom autoaggres­siven Tun oder weiß gar Bescheid darüber, „dann hat die den Druck und kann damit überforder­t sein“, erläutert Glahn.

Den Freundinne­n von Betroffene­n legt sie daher ebenfalls ans Herz, sich jemandem anzuvertra­uen. Weil man am Klösterle um das Problem weiß, gibt es dort laut Patrick Maier vom Konflikthe­lfer-Team über Beratungsu­nd SMV-Lehrer „viele Anlaufstel­len, wo die Mädchen mit ihren Problemen hin können“. Zudem sind die Sportlehre­r angehalten, aufmerksam darauf zu achten, ob eine Schülerin unnatürlic­h dünn und womöglich magersücht­ig ist. Oder ob viel zu viele Schnittwun­den als stummer Hilferuf ihren Körper überziehen und darauf hinweisen, dass ein Mädchen sich selbst verletzt. Die Psychologi­sche Beratungss­telle des Diakonisch­en Werkes ist in Ravensburg unter Telefon 0751/ 3977 oder in Wangen unter 07522/3552 erreichbar. Betroffene können sich auch an die Telefonsee­lsorge wenden (www.telefonsee­lsorge.de.) unter der kostenlose­n Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222.

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FOTO: ARCHIV Ritzen kann zur Sucht werden.

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