Der Inbegriff des Reisemobils
Branchenprimus Erwin Hymer aus Bad Waldsee feiert in diesem Jahr 60-jähriges Bestehen
RAVENSBURG – Wer sich die Nase putzen möchte, verlangt eher nach einem Tempo als nach einem Papiertaschentuch, wer seine Waschmaschine entkalken möchte, tut dies mit Calgon statt dem Entkalker und wer Reisemobile meint, spricht häufig von Hymer. Der Hersteller aus Bad Waldsee (Landkreis Ravensburg) steht stellvertretend für eine ganze Branche, die in Oberschwaben eine erstaunliche Konzentration erfährt. In diesem Jahr feiert das Unternehmen sein 60-jähriges Bestehen – eine Zeit, in der sich Hymer zum europaweit größten Produzenten von Reisemobilen und Wohnwagen aufgeschwungen hat.
Vater dieses Erfolges ist Erwin Hymer, einer dieser Tüftler, Ingenieure und Unternehmer, wie sie in der Region Bodensee-Oberschwaben besonders häufig wurzeln. Gemeinsam mit dem Konstrukteur Erich Bachem stieg er 1957 in die Freizeitfahrzeug-Branche ein. Noch im gleichen Jahr entstand der Wohnwagen Troll – damals eine Art Auftragsfertigung von Erich Bachem, den Freund Erwin in der Karosseriewerkstatt seines Vaters Alfons in Bad Waldsee fertigte.
Das rollende Urlaubsdomizil wollte Bachem eigentlich privat mit der Familie nutzen. Es war die Zeit des Wirtschaftswunders und immer mehr Teutonen zog es über die Alpen in Richtung Italien. Als sich herausstellte, dass für solche Wohnwagen ein Markt existiert, begannen die beiden mit der Serienfertigung.
Das erste Reisemobil konstruierte Hymer 1961, damals auf Basis eines Borgward-Kastenwagens Typ B 611. Reisemobile waren in dieser Zeit ausgesprochene Exoten – und blieben es auch. Denn der Autobauer Borgward geht noch im Entstehungsjahr des Caravano pleite. Mit dem Ableben des B 611 fehlte Hymer ein passendes Basisfahrzeug, und so wurden 1961 nur drei Caravanos gebaut. Erst zehn Jahre später – das Unternehmen hatte sich inzwischen vom Handwerks- zum Industriebetrieb gemausert – begann Hymer erneut mit der Fertigung von Reisemobilen. Es entsteht das Hymermobil, das erste vollintegrierte Reisemobil, mit dem der Unternehmer den Aufstieg der Marke Hymer begründet. Langer Atem und gutes Näschen Mit Innovationen, wie der Verwendung des Kunststoffs Polyurethan als Dämmung für die Außenhaut, einem langen Atem und einem guten Näsdimensionales chen hat es Hymer zum europäischen Branchenprimus im Reisemobilbau geschafft. Immer wieder hat der Konzern bei Umsatz und Absatz zugelegt, die Produktivität gesteigert, Konkurrenten wie Niesmann und Bischoff, Bürstner oder Laika aufgekauft und viele Millionen Euro in den Auf- und Ausbau des Unternehmens gesteckt. Um das stürmische Wachstum zu finanzieren wagte Hymer im Jahr 1990 sogar den Gang an die Börse.
Sieben Jahre später krönte der „Caravan-König“sein Lebenswerk und verwirklichte mit dem Bau des Erwin-Hymer-Museums in Bad Waldsee seinen lang gehegten Traum einer Begegnungsstätte für Freizeitfahrzeuge. In dem imposanten Bauwerk, das optisch an ein über- Caravan-Fenster erinnert, dokumentiert Hymer die Entwicklung der gesamten Branche: „Wir produzieren seit 50 Jahren Wohnwagen und Reisemobile. Da ist es für uns an der Zeit, auch einmal einen Blick zurückzuwerfen und sich der Geschichte anzunehmen“, sagte der Patron anlässlich des Spatenstichs im Dezember 2007.
2007 war rückblickend auch das Jahr, in dem die 50-jährige Erfolgsgeschichte ins Straucheln gerät. Mit 913 Millionen Euro Umsatz fuhr die Hymer-Gruppe im Geschäftsjahr 2007/08 zwar noch einmal Rekordwerte ein. Beim Gewinn musste das Unternehmen aber bereits deutlich Federn lassen. Im Jahr darauf traf die Finanz- und Wirtschaftskrise Hymer mit voller Wucht: Die Erlöse brachen um knapp ein Drittel ein und unter dem Strich stand ein dickes Minus – Kurzarbeit war angesagt und 250 Stellen, vor allem am Hauptsitz in Bad Waldsee, wurden gestrichen. Konkurrenten traf es noch härter. Knaus Tabbert etwa musste Insolvenz anmelden nachdem die Banken dem Unternehmen den Geldhahn zugedreht hatten. Schwierige Jahre Es folgten schmerzhafte Jahre des Freistrampelns, Jahre, mit andauernden Wechseln im Management, und Jahre, in denen man sich eingestehen musste, dass nicht alles rund läuft im Unternehmen. Die Hymer-Gruppe war Anfang der 2000er-Jahre stark gewachsen, Kritiker sagen: gewuchert. Dabei verwischten bisweilen die Unterschiede. Dethleffs leistete sich Ausflüge in die gehobene Klasse, während die Marke Hymer an Prestige einbüßte. Der Gemischtwarenladen produzierte mit viel zu hohen Kosten. Inmitten dieser schwierigen Phase dann auch noch das: Erwin Hymer stirbt im April 2013 mit 82 Jahren. An die 1000 Trauergäste versammelten sich zur Trauerfeier in Bad Waldsee und gaben dem Unternehmer ein letztes Geleit.
Nach dem Tod des Gründers begann für den Wohnmobilbauer eine neue Ära. Das Unternehmen, das inzwischen von der Börse genommen und wieder komplett im Besitz der Familie Hymer war, durchlief den größten Umbau seiner Firmengeschichte. Dazu wurde Hymer mit der CMC Caravan, dem zweiten Wohnmobilkonzern im Privatbesitz der Familie Hymer, zu dem etwa die Marke Dethleffs gehört, verschmolzen. Um die Kosten zu drücken, schaute man in Bad Waldsee in Richtung Automobilindustrie. Ziel war es, die Vielfalt der Plattformen zu verringern, um Wohnwagen und Reisemobile günstiger produzieren zu können. Mehr Fertigung am Fließband sollte kostspielige Handarbeit verdrängen. Davon versprach sich Hymer weniger Fehler und mehr Tempo in der Montage. Wer Bauteile in größeren Stückzahlen abnimmt, kann zudem bessere Preise aushandeln und Lieferanten auf bessere Qualität verpflichten.
„Alles, was man im Fahrzeug sieht, wird individualisiert. Alles, was man nicht sieht, wird standardisiert“, erklärte der amtierende Unternehmenschef Martin Brandt die Strategie. Außerdem versuchte das Management, die Marken der Erwin Hymer Group, wie sich das Unternehmen offiziell nennt, besser zur Geltung zu bringen.
Die Initiativen fruchten. Das Unternehmen fährt inzwischen wieder Rekorde ein: 5000 Mitarbeiter, allein 1600 davon am Standort Bad Waldsee, ein Gruppenumsatz von 1,6 Milliarden Euro und 36 000 verkaufte Fahrzeuge im Jahr zeigen, dass die Weichenstellungen der Vorjahre richtig sind.