„Kirche überfüllt!“– Wo hat man das sonst?
Pfarrer Matthias Kohler berichtet vom Kirchentag – Zufällig Zuhörer bei Bibelarbeit mit SPD-Kanzlerkandidat Schulz
BERLIN - Pfarrer Matthias Kohler von der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Tuttlingen berichtet in einem Tagebuch vom Deutschen Evangelischen Kirchentag aus Berlin. Langsam fordern die kurzen Nächte ihren Tribut: Manche wollen gar nicht aufstehen, andere gähnen ihren Kaffee an. Beim Frühstück schmieden wir die Pläne für den Samstag: Bibelarbeit mit der Stuttgarter Schriftstellerin Sybille Lewitscharow oder doch lieber zum EKD-Vorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm?
Ich entscheide mich für Ersteres und erlebe ein feinsinniges, geistreiches und tiefgründiges Gespräch zwischen Lewitscharow und Petra Bahr, der Landessuperintendentin der Nordkirche. Über BedfordStrohm sagen manche: „So lala“. Frustriert berichten andere, sie hätten vergebens vor dem Dom angestanden. „Kirche überfüllt“, hieß es. Wo hat man das sonst?
Tagsüber besuchen wir die Stände auf dem Markt der Möglichkeiten, gehen zu kleineren Veranstaltungen wie Kabarett und Podiumsdiskussionen, genießen im Sommergarten der Messe die Musik verschiedener Bands oder atmen das Kirchentagsflair in der Stadt.
Um 18 Uhr werden auf dem Gendarmenmarkt 500 Tische für ein gemeinsames Abendmahl hergerichtet. Die orthodoxe Kirche lädt ein. Dort ist möglich, was mit der katholischen Kirche derzeit noch nicht geht. Vielleicht hat das Vorbildcharakter für die ökumenische Tischgemeinschaft mit den Katholiken. Gemeinsames Abendmahl Abends treffen wir uns bei der schwäbischen A-Capella-Gruppe „FUENF“. Gekonnt, witzig und beschwingt präsentieren sie ihr Programm. Wir singen mit, tanzen und lassen den Tag bei einem Bier ausklingen.
In der U-Bahn wird gelacht, erzählt und diskutiert. Fremde Menschen kommen ins Gespräch: Berliner mit Schwaben oder Nordlichtern. Wie schön, im Kontrast zum sonst vorherrschenden Schweigen und Handygeklapper – auch das gehört zum Kirchentag!
Nach sechs Stunden Schlaf fällt das Aufstehen immer schwerer. Weil das blöde Internet nicht wirklich geht und ich die Bilder nicht zum Gränzboten verschickt bekomme, bin ich zu spät dran, um es rechtzeitig auf die Messe zu schaffen.
Mit Volldampf rase ich auf dem Fahrrad durch die Stadt. Am Dom fällt mir auf, dass Massen hineinströmen. Ohne das Programm zu studieren, reihe ich mich in die Schlange ein. Wow, schon allein der Architektur wegen hat sich das Anstehen gelohnt: Ich schaue, wer kommt: Martin Schulz, SPD-Kanzlerkandidat, und Eckhardt Nagel, Professor für Medizin und „alter Kirchentagshase“. Gar nicht so schlecht, denke ich. Die beiden Bibelarbeiter versuchen sich an der Auslegung der Zachäusgeschichte. Für Schulz ein „gefundenes Fressen“. Immer wieder betont er, dass das auch im Parteiprogramm stehen könnte. Schulz und Nagel legen Zachäusgeschichte aus Wie ein Reicher beginnt, seinen Reichtum zu teilen. Wie alle in die Gemeinschaft hineingenommen werden. Wie Jesus sich den Ausgeschlossenen zuwendet, wie er ihnen die Chance gibt, das Leben zu ändern, dass sie wieder hineingenommen sind in die Gesellschaft. „Gemeinsam schaffen wir das“, betont Schulz. Aber eben nicht so, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Sondern, dass geteilt wird, dass jeder das in die Gesellschaft einbringt, was er hat. Immer mehr gerät Schulz ins Politische und redet von Kindergartenbeiträgen und Mindestlohn. Nagel ist es, der ihn zurückholt zum biblischen Text. Trotzdem fand ich Schulz angenehm und sympathisch. Einer, der sein Urteil abwägt und, der unbedingt mehr Gerechtigkeit schaffen will bei uns.
Eine kleine Gruppe ging zur musikalischen Bibelarbeit. Viele haben Lust, in Gemeinschaft zu singen und nicht nur zuzuhören. Nachmittags machen wir uns auf den Weg nach Wittenberg.
EINEN WEITEREN TEIL DES TAGEBUCHS LESEN SIE AM DIENSTAG.