Eine Villa rollt davon
Ein historisches Gebäude weicht in St. Gallen einem Neubau – Tausende Schaulustige beobachten den Ortswechsel
ST. GALLEN - Ein Ruck geht durch das Gebäude. Millimeter um Millimeter geht es voran. Langsam schiebt sich das Haus am Mittwochmorgen das leicht abschüssige Gelände hinunter. Es knirscht hin und wieder kaum hörbar. Nur wer genau hinsieht, bemerkt, wie sich das Gebäude bewegt. 3600 Tonnen Ziegelmauerwerk schleichen mit drei Metern pro Stunde davon: Die Villa Jacob in St. Gallen bekommt einen neuen Standort – 20 Meter weiter südlich, 1,80 Meter tiefer.
Denn das Haus stand im Weg. Wortwörtlich. Die Villa Jacob in der St. Gallener Innenstadt muss einem Neubau der Gemeinnützigen Hilfsgesellschaft St. Gallen (GHG) Platz machen. Ein neues Heim für ältere Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen soll entstehen: das Marthaheim, benannt nach der heiligen Martha. Gemeinsam mit dem bereits bestehenden Altersheim Josefshaus soll so ein Pflegekomplex auf dem Kreuzacker oberhalb St. Gallens entstehen.
Die Villa dafür abreißen, war aber keine Option, denn das rund 140 Jahre alte Gebäude steht unter Denkmalschutz. „Land in St. Gallen ist rar und kostbar. Nachdem klar war, dass die Villa Jacob unter Denkmalschutz steht, hat die zuständige Kommission der GHG entschieden, sie zu verschieben, damit dahinter genügend Platz fürs neue Marthaheim entsteht“, erklärt Patrik Müller, Geschäftsführer der GHG. Und nach rund zehn Monaten Vorbereitung ist der große Tag endlich gekommen. „Jetzt hoffen wir, dass alles gut geht.” Der Countdown läuft Für die Bewohner und Mitarbeiter des bestehenden Altersheimes ist es etwas ganz Besonderes. Rote Luftballons säumen am Tag der Verschiebung die Terrasse im fünften und sechsten Stock, gleich neben der Baustelle. Von hier haben die Zuschauer freie Sicht auf die Villa Jacob. Auf der anderen Seite reicht der Blick hingegen weit über die Innenstadt St. Gallens hinweg. Gemeinsam zählen alle den Countdown hinunter, dann geht die Verschiebung los. „Das ist beeindruckend, dass so etwas überhaupt geht”, sagt Elsbeth Schopfer. Die 86-Jährige wohnt im Josefshaus. Bereits vor einigen Jahren hat sie eine Verschiebung in Zürich gesehen. „Jetzt hier vor der eigenen Haustür so etwas erleben zu können, ist sehr spannend.” Am Abend will sie auf die Terrasse kommen, schauen, ob die Villa den ganzen Weg geschafft hat und klatschen.
Das Erlebnis wird gemeinschaftlich gefeiert. Vom Pfleger bis zum Bauarbeiter auf der Baustelle haben alle dasselbe T-Shirt an. „Jacob Gump für Martha und Josef” ist darauf zu lesen. Die Villa Jacob „springt“also für Marthaheim und Josefshaus zur Seite. Insgesamt 200 der roten T-Shirts hat die GHG drucken lassen. Doch obwohl die Luftballons, die gereichten Schnittchen und die neugierigen Zuschauer den Tag wie ein großes Richtfest aussehen lassen, steckt noch mehr dahinter. „Mit diesem Tag wollen wir uns für die Unterstützung der Bewohner und der Öffentlichkeit bedanken”, sagt Geschäftsführer Müller. Außerdem sollen alle Interessierten St. Gallener Zugang zu Informationen erhalten. Ständige Kontrolle Nach zweieinhalb Stunden hat die Villa Jacob rund fünf Meter geschafft. Den Fortschritt erkennt man von oben oder auch an Rollen auf den Stahlschienen. Grüne Punkte haben die Bauarbeiter aufgesprüht. So sehen sie und die Zaungäste, wie sich die Villa doch langsam voranbewegt, auch wenn sie auf den ersten Blick stillzustehen scheint. Ständig messen sie, wischen über die graphitschwarzen, öligen Schienen und stellen die Hydraulikpumpen nach. Viel Zeit braucht man für so ein großes Gebäude. „Fehler passieren, wenn man sich beeilt”, sagt der leitende Ingenieur Rolf Iten. Die Villa Jacob ist seine geschätzt 200ste Verschiebung.
Viel Arbeit steckt dahinter. Seit November bereitet die ausführende Baufirma Iten aus dem schweizerischen Morgarten die Verschiebung vor. 20 000 Arbeitsstunden stecken hinter dem Projekt: Ein neues Fundament musste errichtet und der alte Standort freigelegt werden, bis man unter den 200 Stahlträgern hindurchschauen konnte, die die Villa stützten. Zwölf Schienen führen zum neuen Standort. Die Bewegung ermöglicht ein extrem hoher Druck mit einer Kraft von 50 bis 100 Tonnen, der von mehreren Hydraulikpressen erzeugt wird.
Zwei bis fünf solcher Gebäudeverschiebungen bearbeitet die Firma mit dem Motto „Iten... Kann alls“pro Jahr. Wenn sie gerade keine Villen verschieben, heben, drehen und senken die Bauarbeiter Brücken und Gebäude. Seit 1953 ist die Firma Spezialist für außergewöhnliche Bauprojekte. Diese Verschiebung ist aber auch für die erfahrene Firma etwas besonderes, sagt Martha Gabriel von Iten-Bau: „Das ist die drittgrößte Verschiebung, die wir je vorgenommen
„Im ersten Moment fand ich die Idee einer Verschiebung einen absoluten Wahnsinn.“Roland Buschor, Geschäftsführer Hospiz St. Gallen
haben.“Anspruchsvoll sei es vor allem, weil das Gebäude ein Gefälle von zwei Metern überwinden muss. „Wir haben dafür zum ersten Mal zwei Verfahren zusammengefügt. Einerseits nutzen wir Stahlrollen, das ist üblich für Gebäudeverschiebungen. Andererseits gleiten wir Stahlträger auf Stahlträger, das ist von uns schon oft genutzt worden für Brückenverschiebungen“, erklärt Iten. Die Kombination wurde gewählt, weil das Gebäude acht Prozent Gefälle überwinden musste. Umgerechnet rund zwei Millionen Euro kostet die Verschiebung.
Im neuen Heim, das auf dem frei gewordenen Platz entsteht, sollen in rund zwei Jahren 78 Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen oder einer Sucht-Problematik leben. Der Bauplatz ist kein Zufall: Das künftige Marthaheim und das bereits bestehende Seniorenheim Josefshaus sollen verbunden werden. Etwa zehn Jahre lang hat die Stadt eine Lösung für dieses neue Alters- und Psychiatriezentrum gesucht. Die Lösung schließlich: die Villa Jacob verrücken und Platz drum herum schaffen. In die Villa wird dann 2019 das Hospiz St. Gallen einziehen. Inklusive Villenverschiebung kostet das ganze Projekt fast 40 Millionen Schweizer Franken, die Stadt St. Gallen subventioniert den Neubau mit sechs Millionen Franken. Ziel erreicht „Im ersten Moment fand ich die Idee einer Verschiebung einen absoluten Wahnsinn“, sagt Roland Buschor, Geschäftsführer des Hospizes St. Gallen. „Heute sehe ich, dass die Zusammenführung von Marthaheim und Josefshaus sehr viel Synergien nutzbar macht und somit auch finanziell eine sehr sinnvolle Lösung ist. Und dass dabei die Villa Jacob frei wird und wir sie als Zuhause für unser Hospiz nutzen können, hat mich natürlich sehr gefreut.“Bis es 2019 in die Villa am neuen Standort einziehen kann, nutzt das Hospiz eine andere Immobilie in der St. Gallener Innenstadt.
Nach rund zehn Stunden ist es schließlich geschafft: Die Villa Jacob ist an ihrem neuen Standort angekommen. Hier soll sie die kommenden 140 Jahre bleiben.