Mesale Tolu bleibt in Haft
Türkisches Gericht sieht Fluchtgefahr
ISTANBUL/ULM (mö) - Die aus Ulm stammende, in der Türkei seit Ende April inhaftierte Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu (33) bleibt vorerst in Untersuchungshaft, wie ein Istanbuler Gericht nach Angaben der Anwältin entschied. Zur Begründung hieß es unter anderem, es bestehe Fluchtgefahr. „Wir sind sehr enttäuscht“, sagte ein Sprecher des Solidaritätskreises am Mittwoch.
Der deutsche Botschafter Martin Erdmann wollte die Journalistin am Mittwoch besuchen. Ihr wird unter anderem Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Verbreitung von Terrorpropaganda vorgeworfen.
Der türkische EU-Minister Ömer Celik befeuerte derweil den Konflikt zwischen der Türkei und Deutschland mit Angriffen auf Bundesaußenminister Sigmar Gabriel weiter. In einer Reihe von Twitter-Nachrichten warf Celik Gabriel am Mittwoch unter anderem vor, von „Rassisten“zu kopieren.
Rund 1,2 Millionen Deutschtürken sind bei der Bundestagswahl am 24. September stimmberechtigt. Der Aufruf des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, SPD, Grüne und CDU nicht zu wählen, könnte traditionelle Präferenzen aufmischen.
Jahrzehntelang profitierte fast ausschließlich das linke Lager wegen seiner migranten- und islamfreundlichen Politik von der wachsenden Zahl deutsch-türkischer Wahlberechtigter, rund zwei Drittel aller muslimischen Wähler. Die unter Rot-Grün erleichterte Einbürgerung und der Doppelpass garantierten stets Hunderttausende Stimmen.
Laut einer Analyse des Berliner Meinungsforschungsinstituts Data4U nach der Wahl 2013 machten damals 64 Prozent der türkischstämmigen Wähler ihr Kreuz bei der SPD, jeweils zwölf Prozent stimmten für Grüne und Linke; die lange Zeit einwanderungsskeptische Union landete hingegen bei sieben Prozent.
Nachdem Erdogan SPD, Grüne und CDU als „Feinde der Türkei“beschimpft hatte, denen Wähler mit türkischen Wurzeln die kalte Schulter zeigen sollten, könnten alte Vorlieben ins Wanken geraten. Das Staatsoberhaupt folgt seiner Linie, nach der auch eingebürgerte Türkischstämmige vor allem der Türkei – oder besser: seiner AKP-Regierung – Loyalität schulden.
Ob Erdogans unverhohlene Einmischung in den deutschen Wahlkampf verfängt, ist allerdings fraglich. „Es sollte nicht erwartet werden, dass türkischstämmige Deutsche sich vom türkischen Präsidenten vorschreiben lassen, welche Partei sie wählen oder nicht wählen sollen“, meint der Wahlforscher Andreas Wüst. „Es könnte durchaus sein, dass Herr Erdogan mit solchen Aufrufen genau das Gegenteil dessen bewirkt, was er bezwecken möchte“, so der External Fellow am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Anstieg bei Nichtwählern erwartet Das beginne schon damit, dass Deutschtürken und in Deutschland lebende Türken zwei unterschiedliche Gruppen seien. Will heißen: Die hohe Zustimmung, die Erdogan bei der Volksabstimmung im April für die Erweiterung seiner Machtbefugnisse von türkischen Wählern und Doppelpassinhabern in Deutschland erhielt, lässt kaum Rückschlüsse darauf zu, ob die Masse der türkischstämmigen Bundestagswähler seinen Anweisungen folgt. Schließlich besitzt nur eine kleine Minderheit von ihnen die doppelte Staatsbürgerschaft, kann also damals für Erdogan gestimmt haben.
Nach wie vor sehen die meisten Türkischstämmigen laut Wüst ihre wichtigsten Interessen als Migranten und Muslime mehrheitlich im linken Parteienspektrum vertreten. Das lässt eher vermuten, dass sich am Wahlverhalten im September wenig ändert. Erdogans Manipulationsversuch dürfte somit allenfalls einen gewissen Anstieg bei den Nichtwählern verursachen. 2013 lag die deutschtürkische Wahlbeteiligung der damaligen Studie zufolge knapp unter der Gesamtbeteiligung von 71,5 Prozent.
Beobachter sehen gerade im Auftauchen der AfD und der angeheizten Islamdebatte einen Anreiz für Deutschtürken und andere Muslime, wählen zu gehen. Wahlforscher Wüst bemängelt indes: Insgesamt fehle es bisher an empirischen Daten, um die politischen Befindlichkeiten in diesem Wählerspektrum besser ausloten zu können. (KNA)