Trossinger Zeitung

Mesale Tolu bleibt in Haft

Türkisches Gericht sieht Fluchtgefa­hr

- Von Christoph Schmidt

ISTANBUL/ULM (mö) - Die aus Ulm stammende, in der Türkei seit Ende April inhaftiert­e Übersetzer­in und Journalist­in Mesale Tolu (33) bleibt vorerst in Untersuchu­ngshaft, wie ein Istanbuler Gericht nach Angaben der Anwältin entschied. Zur Begründung hieß es unter anderem, es bestehe Fluchtgefa­hr. „Wir sind sehr enttäuscht“, sagte ein Sprecher des Solidaritä­tskreises am Mittwoch.

Der deutsche Botschafte­r Martin Erdmann wollte die Journalist­in am Mittwoch besuchen. Ihr wird unter anderem Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation und Verbreitun­g von Terrorprop­aganda vorgeworfe­n.

Der türkische EU-Minister Ömer Celik befeuerte derweil den Konflikt zwischen der Türkei und Deutschlan­d mit Angriffen auf Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel weiter. In einer Reihe von Twitter-Nachrichte­n warf Celik Gabriel am Mittwoch unter anderem vor, von „Rassisten“zu kopieren.

Rund 1,2 Millionen Deutschtür­ken sind bei der Bundestags­wahl am 24. September stimmberec­htigt. Der Aufruf des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan, SPD, Grüne und CDU nicht zu wählen, könnte traditione­lle Präferenze­n aufmischen.

Jahrzehnte­lang profitiert­e fast ausschließ­lich das linke Lager wegen seiner migranten- und islamfreun­dlichen Politik von der wachsenden Zahl deutsch-türkischer Wahlberech­tigter, rund zwei Drittel aller muslimisch­en Wähler. Die unter Rot-Grün erleichter­te Einbürgeru­ng und der Doppelpass garantiert­en stets Hunderttau­sende Stimmen.

Laut einer Analyse des Berliner Meinungsfo­rschungsin­stituts Data4U nach der Wahl 2013 machten damals 64 Prozent der türkischst­ämmigen Wähler ihr Kreuz bei der SPD, jeweils zwölf Prozent stimmten für Grüne und Linke; die lange Zeit einwanderu­ngsskeptis­che Union landete hingegen bei sieben Prozent.

Nachdem Erdogan SPD, Grüne und CDU als „Feinde der Türkei“beschimpft hatte, denen Wähler mit türkischen Wurzeln die kalte Schulter zeigen sollten, könnten alte Vorlieben ins Wanken geraten. Das Staatsober­haupt folgt seiner Linie, nach der auch eingebürge­rte Türkischst­ämmige vor allem der Türkei – oder besser: seiner AKP-Regierung – Loyalität schulden.

Ob Erdogans unverhohle­ne Einmischun­g in den deutschen Wahlkampf verfängt, ist allerdings fraglich. „Es sollte nicht erwartet werden, dass türkischst­ämmige Deutsche sich vom türkischen Präsidente­n vorschreib­en lassen, welche Partei sie wählen oder nicht wählen sollen“, meint der Wahlforsch­er Andreas Wüst. „Es könnte durchaus sein, dass Herr Erdogan mit solchen Aufrufen genau das Gegenteil dessen bewirkt, was er bezwecken möchte“, so der External Fellow am Mannheimer Zentrum für Europäisch­e Sozialfors­chung. Anstieg bei Nichtwähle­rn erwartet Das beginne schon damit, dass Deutschtür­ken und in Deutschlan­d lebende Türken zwei unterschie­dliche Gruppen seien. Will heißen: Die hohe Zustimmung, die Erdogan bei der Volksabsti­mmung im April für die Erweiterun­g seiner Machtbefug­nisse von türkischen Wählern und Doppelpass­inhabern in Deutschlan­d erhielt, lässt kaum Rückschlüs­se darauf zu, ob die Masse der türkischst­ämmigen Bundestags­wähler seinen Anweisunge­n folgt. Schließlic­h besitzt nur eine kleine Minderheit von ihnen die doppelte Staatsbürg­erschaft, kann also damals für Erdogan gestimmt haben.

Nach wie vor sehen die meisten Türkischst­ämmigen laut Wüst ihre wichtigste­n Interessen als Migranten und Muslime mehrheitli­ch im linken Parteiensp­ektrum vertreten. Das lässt eher vermuten, dass sich am Wahlverhal­ten im September wenig ändert. Erdogans Manipulati­onsversuch dürfte somit allenfalls einen gewissen Anstieg bei den Nichtwähle­rn verursache­n. 2013 lag die deutschtür­kische Wahlbeteil­igung der damaligen Studie zufolge knapp unter der Gesamtbete­iligung von 71,5 Prozent.

Beobachter sehen gerade im Auftauchen der AfD und der angeheizte­n Islamdebat­te einen Anreiz für Deutschtür­ken und andere Muslime, wählen zu gehen. Wahlforsch­er Wüst bemängelt indes: Insgesamt fehle es bisher an empirische­n Daten, um die politische­n Befindlich­keiten in diesem Wählerspek­trum besser ausloten zu können. (KNA)

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