Miteinander trocken bleiben
Oder Wege aufzeigen, wie man trocken werden kann: Anonyme Alkoholiker Tuttlingen
TUTTLINGEN - Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen: Unter dieser Überschrift treffen sich die Anonymen Alkoholiker einmal die Woche in der Versöhnungskirche in Tuttlingen. Der Name ist Programm. Die Teilnehmer müssen weder ihren Namen nennen, noch ihren Wohnort – und sind auch nicht verpflichtet, über sich oder ihre Probleme zu reden. Aber eins müssen sie können: zuhören.
Die heute 74-jährige Irene S. (Name von der Redaktion geändert) gehört zu den Gründungsmitgliedern, die die Tuttlinger Gruppe 1994 aus der Taufe hob. Schmitt war nach Tuttlingen gezogen, an ihrem vorigen Wohnort hatte ihr die Gruppe bereits geholfen, keinen Alkohol mehr zu trinken. „Das ist eine wahnsinnige Lebenshilfe“, sagt sie. „Wir sind alles Betroffene und können dadurch die Alkoholsucht am besten verstehen.“
Bei den Anonymen Alkoholikern ist jeder willkommen, der Probleme mit dem Alkohol hat und den Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. „Wir stellen keinerlei Anforderungen. Wir nennen uns beim Vornamen, melden uns, wenn wir etwas im Meeting sagen möchten und werden der Reihe nach vom Gruppensprecher aufgerufen. Jeder darf aussprechen und wird nicht durch Zwischenrufe unterbrochen.“Sätze, die mit „Du musst...“oder „Du sollst...“beginnen, kommen bei den Gruppentreffen nicht vor. Die haben die meisten schon tausendmal gehört – von Angehörigen, von Freunden, von Vorgesetzten. Irene S.: „Wir geben uns keine Ratschläge. Wir schildern unsere eigenen Erfahrungen.“ Alkohol als Retter in der Not „Alkohol ist Dein Sanitäter in der Not. Alkohol ist Dein Fallschirm und Dein Rettungsboot“: Diese Liedzeile aus Herbert Grönemeyers Lied „Alkohol“war für Schmitt jahrelang Alltag. Nein, sie hat keine zwei Liter Schnaps am Tag getrunken, nicht einmal ihr Mann hat bemerkt, dass sie ein Problem hatte. „Aber ich habe gemerkt, dass mein Konsum immer mehr wird“, sagt sie. Sie hat einen starken Willen. „Aber beim Alkohol habe ich es nicht geschafft, standhaft zu bleiben.“
Sie bezeichnet sich selbst als sensibel: „Ich mache mir über alles Gedanken.“Und ihre Ansprüche an sich selbst sind hoch. Damals war Irene S. berufstätig, schmiss den Haushalt, erzog die Kinder, wollte eine gute Mutter und attraktive Partnerin sein. Dazu kam, dass sie schwere Zeiten hinter sich hatte, eine gescheiterte erste Ehe und mehr. „Das konnte ich mit einem Glas Wein alles wegspülen“, sagt sie im Rückblick. Der Alkohol wurde immer mehr zu ihrem Begleiter: Nach einem langen Tag, abends zum Entspannen. Dann auch nach dem Job, wenn sie noch schnell einkaufen gehen musste und abgekämpft nach Hause kam.
S. hatte damals immer wieder Phasen, in denen sie nichts getrunken hat. Teilweise auch Zeitspannen von ein bis zwei Jahren. Ein kleines Gläschen Piccolo zum Anstoßen hat die Abwärtsspirale dann wieder in Gang gebracht.
Seit Jahrzehnten trinkt sie gar keinen Alkohol mehr. Nur so ist der Weg aus der Sucht zu schaffen, sagt sie. Doch lebenslange Abstinenz, nie wieder Alkohol – das ist eine so gewaltige Herausforderung, dass die Anonymen Alkoholiker die Hürde anders formulieren, um die Kraft nicht zu verlieren. „Wir sind für heute trocken!“, heißt ihr Mantra. Manchmal auch, in den Akutphasen der Suchtentwöhnung „Wir sind für eine Stunde trocken.“Ein bisschen ist es, als wolle man Berge versetzen: Man arbeitet sich Stück für Stück vor. Erfahrung und Hoffnung teilen „Hauptzweck unserer Treffen ist es, miteinander trocken zu bleiben oder einen Weg aufzuzeigen, wie man trocken werden kann“, sagt Irene S. Dafür teilen sie Erfahrung, Kraft und Hoffnung. Weitere Informationen über die 65 Selbsthilfegruppen im Kreis Tuttlingen bei der Selbsthilfekontaktstelle, Telefon 07461 / 926 4604, s.wurdak@landkreistuttlingen.de