Angeklagter lässt an Schuldfähigkeit zweifeln
Überfall auf Dessous-Geschäft: Zwei zentrale Fragen beschäftigen das Gericht
TUTTLINGEN/ROTTWEIL - Warum geht jemand mit einem Elektroschocker und einem Messer in ein Dessous-Geschäft, wenn er nur Unterwäsche kaufen will? Das ist eine zentrale Frage im Prozess gegen einen Mann aus dem westlichen Landkreis, der sich wegen versuchten Mordes vor dem Landgericht Rottweil verantworten muss.
Am ersten Prozesstag hat der Angeklagte gestanden (wir berichteten), die Verkäuferin mit dem Elektroschocker angegriffen, mit dem Messer in den Hals geschnitten, danach gewürgt und mit einer Metallstange auf sie eingeprügelt zu haben. Die 39-jährige Frau erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Der behandelnde Arzt des Klinikums Villingen-Schwenningen berichtete am zweiten Verhandlungstag unter anderem von einem Bruch des Schädelknochens, weshalb die Implantation eines Titangitters notwendig war.
Der Angeklagte erklärte, er sei von der Nachtschicht in Arbeitsklamotten nach Tuttlingen gefahren. Das Cuttermesser (ähnlich wie ein Teppichmesser) benötige er als Lagerist regelmäßig und den Elektroschocker, der mit einer Taschenlampe kombiniert sei, habe er stets als Schutz in der Tasche, weil er beruflich oft bei Dunkelheit unterwegs sei.
Die zweite zentrale Frage lautet: Wie sehr stand der Mann am Nachmittag dieses 10. November 2016 unter dem Eindruck von Alkohol und Drogen? Er selbst berichtete, auch noch an jenem Nachmittag in Tuttlingen, Schnaps, Prosecco und Rauschgift konsumiert zu haben.
Doch die 1. Schwurgerichtskammer hat Zweifel an dieser Darstellung, wie Karlheinz Münzer, der Vorsitzende Richter, am Mittwoch deutlich machte. Er bezeichnete es es als unverständlich, dass der 37-Jährige vor der Tat eine Bekannte getroffen und auch auf deren Kinderwagen aufgepasst habe, sich jetzt aber nicht mehr an ihren Namen erinnern könne.
Um sich ein Bild über den damaligen Zustand des Angeklagten machen zu können, bat ihn Münzer, den Tuttlinger Anwalt, den er zuvor aufgesucht hatte, von der Schweigepflicht zu entbinden. Das lehnte der jetzige Verteidiger, Bernd Behnke (Donaueschingen), ab. Sein Mandant befürchte, dass der Tuttlinger Anwalt „nicht objektiv genug“sei, so die Begründung.
Nicht nur dieses Detail machte die Strategie der Verteidigung deutlich: Sie strebt aufgrund des Drogenkonsums eine verminderte oder völlige Schuldunfähigkeit an. Immer wieder erklärte der 37-Jährige, dass er täglich Amphetamine, Heroin, Kokain oder andere Rauschmittel konsumiert habe und wie sehr er abhängig gewesen sei. Am Tattag sei es besonders extrem gewesen, nachdem ihm der Anwalt eröffnet habe, dass ihm eine längere Haftstrafe drohe. An den Überfall mit all den brutalen Einzelheiten, beteuert er, könne er sich nicht erinnern.
Das steht in einem gewissen Widerspruch zu seinem Verhalten nach der Tat. Er versteckte seine Oberbekleidung in einer Mülltonne, das Messer in einem Gully und die Metallstange in einem Gebüsch – und am nächsten Tag führte er einen Kripo-Beamten auffallend zielsicher an alle drei Orte.
Auf die Schliche kam ihm die Polizei, weil er beim Kampf im Laden das Armband mit den Initialen der Rocker-Gruppe „Mohicans Darkland“, einer Supportergruppe der Hells Angels, verloren hatte. Schließlich führte ein vertraulicher Hinweis“, so Richter Münzer, zur Festnahme am Abend nach der Tat beim Bahnhof in St. Georgen, wo er bei seinem Halbbruder Hilfe gesucht hatte. Entzugserscheinungen habe er nicht festgestellt, sagte der Ermittlungsleiter gestern.
Ironie am Rande: Der Täter erbeutete 313,10 Euro aus der Kasse, ließ aber zwei Geldtaschen mit insgesamt 1100 Euro Einnahmen zurück. Der Prozess wird am heutigen Donnerstag fortgesetzt.