Ärger first – Digital second
Nach Septembergewittern wird man im Winter zittern.“So heißt eine alte Bauernregel. Manch einer zittert vorab schon – allerdings vor Wut. Am Mittwochnachmittag blitzte und krachte es über Leutkirch. Kurze Zeit später die Bescherung: Beide PCs im Haus, beide Smartphones tot, keine Internetverbindung mehr. Aber liegt das am Gewitter und ist die ganze Stadt vom Netz? Oder haben nur die eigenen Geräte einen Schlag ab? Oder ist der Router kaputt gegangen? Wer weiß das? Und noch wichtiger: Wer hilft aus der Patsche? Lange, bange Minuten in Warteschlangen, schließlich hochkomplexe, aber ineffektive Expertenkommentare in ComputerChinesisch, ansteigende Ohnmachtsgefühle, Hitzewallungen – und der Griff zum Blutdruckmessgerät. Warum diese Erzählung? Weil einem kurz vor dem Abheben ein Wahlslogan durch den Kopf zuckte: „Digital first – Bedenken second“. Geärgert hatte man sich über diese FDP-Parole schon seit Wochen, aber nun bekam diese Aversion eine neue Dimension. Denn – einmal abgesehen vom Überangebot an englischen Wörtern und der plumpen Anspielung auf Donald Trumps „America first“– was will uns dieser Spruch eigentlich sagen? Grenzenlose Glorifizierung der digitalen Welt? Vorrang für die Digitalisierung in allen Bereichen – trotz aller möglichen negativen Begleiterscheinungen? Darüber könnte man ja noch diskutieren. Aber zuvor soll wohl das Gehirn ausgeschaltet werden. Bedenken auf die lange Bank! Nachgedacht wird später … Haben sich die Liberalen eigentlich nicht überlegt, wie armselig diese Argumentation ist? Der gewaltigen Herausforderung unserer Gesellschaft durch die digitale Revolution wird ein solcher Slogan jedenfalls nicht gerecht. Da warnt man immer davor, den Bürger vor der Wahl für dumm zu verkaufen – und dann so etwas! Ein Trost: Am Montag ist alles vorbei. Dann werden die Plakate überklebt, die Banner eingerollt, die Broschüren eingestampft. Dann ist Schluss mit dieser maßlosen Werbung in eigener Sache, der übrigens alle Parteien huldigen und die oft genug nur eines ist: kontraproduktiv. Hier noch ein Nachklapp in Sachen Grammatik. Oben steht der Satz: „Da warnt man immer davor, den Bürger vor einer Wahl für dumm zu verkaufen …“Das ist korrekt. Nicht korrekt wäre gewesen: „Da warnt man immer, den Bürger vor einer Wahl nicht für dumm zu verkaufen.“Genau diese Konstruktion liest und hört man aber immer wieder – quer durch alle Medien. So hat gerade die „Tagesschau“anlässlich der Hurrikan-Katastrophen einen Betroffenen zitiert, der „warnte, den Sturm nicht zu unterschätzen“. Spätestens wenn man sagt, vor wem oder was gewarnt wird, also hinter warnte ein davor setzt, wird klar, wie absurd diese Aussage ist. Wehe dem, der den Hurrikan nicht unterschätzt … Am Mittwochabend war der Spuk übrigens plötzlich vorbei und der Haushalt wieder am Netz. Immer nach dem Motto: Ärger first – Digital second. Wenn Sie Anregungen zu Sprachthemen haben, schreiben Sie! Schwäbische Zeitung, Kulturredaktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg
r.waldvogel@schwaebische.de