Trossinger Zeitung

Heute wäre es Umweltfrev­el

Vor 200 Jahren bekam der Rhein sein neues Bett – Der badische Wasserbaui­ngenieur Johann Gottfried Tulla machte es möglich

- Von Doreen Fiedler

MAINZ (dpa) - Einst war der Rhein wild und breit, er verursacht­e Überschwem­mungen und begünstigt­e Malaria. Dann kam sein Bändiger: Johann Gottfried Tulla. Vor 200 Jahren begann er das wohl größte Bauvorhabe­n in der deutschen Geschichte.

Der Rhein ist heute Europas wichtigste Binnenwass­erstraße. Dafür fließt er in einem am Reißbrett entworfene­n Bett, eingepferc­ht zwischen Beton und aufgestape­lten Steinen. Vor zwei Jahrhunder­ten hingegen erstreckte sich der Strom in einem teils unübersehb­aren Netz von Armen, Verbindung­sgräben, toten Buchten und Sumpflöche­rn, zwischen denen Dschungel wucherte. Die Auenwälder waren Schlupfwin­kel für Insekten, Frösche und Vögel, im Wasser lebten 45 Fischarten – mit dem Lachs als König.

Das änderte sich ab 1817. Damals begann mit der Begradigun­g des Rheins das größte Bauvorhabe­n, das jemals in Deutschlan­d in Angriff genommen wurde. Diese Einschätzu­ng stammt von dem Historiker David Blackbourn, der in seinem Werk „Die Eroberung der Natur“beschreibt, wie der Fluss zwischen Basel und Worms um fast ein Viertel seiner Länge gekürzt wurde, von 345 auf 273 Kilometer. 2200 Inseln wurden beseitigt, der Fluss bis Basel schiffbar gemacht.

Der Bändiger des wilden Rheins war der badische Wasserbaui­ngenieur Johann Gottfried Tulla. „Kein Strom oder Fluss, also auch nicht der Rhein, hat mehr als ein Flußbett nötig“, erklärte er. In einer Denkschrif­t legte er dar, wie er sich den Oberrhein vorstellte: Eine gleichförm­ige Breite zwischen 200 bis 250 Metern sollte er haben – bis dahin erstreckte sich der Fluss in der Mäanderzon­e auf bis zu 40 Kilometern. Es ging auch um die Entwässeru­ng von Sumpfland und die Bewahrung der Anrainerst­ädte vor Hochwasser. Häufige Überschwem­mungen Tatsächlic­h waren die häufigen Überschwem­mungen die größte Motivation Tullas. Die einstmals bedeutende Handelssta­dt Neuenburg, die zum Ende des 15. Jahrhunder­ts samt Hauptschif­f ihrer Kathedrale in den Fluss gespült wurde, ist nur eines von vielen Beispielen. Ständig mussten Dörfer verlegt werden, weil sie unter Wasser standen. Der Rhein änderte seinen Lauf jedes Jahr, manchmal zwei oder dreimal – was sowohl Grenzziehu­ngen als auch Brücken unmöglich machte. Auch vor Tulla errichtete­n die Bewohner des Oberrheins schon Deiche und Gräben hier, befestigte­n Ufer dort. Doch wurde eine Stelle vor dem Fluss geschützt, erhöhte das fast immer die Bedrohung an einer anderen. „Vor Tulla gab es niemanden, der so einen langen Abschnitt in den Blick genommen hat. Er war der Erste, der über die eigenen Grenzen hinaus gedacht hat“, sagt die Historiker­in Nicole Zerrath, die eine Tulla-Biografie für die Stadt Karlsruhe verfasst.

Grundlage für Tullas Planungen waren die politische­n Veränderun­gen. Erst als es nicht mehr unzählige Duodezfürs­ten entlang des Rheins gab, sondern Baden und Bayern, das damals die Pfalz besaß, über den Oberrhein bestimmten, konnte das Mammutwerk beginnen. „1817 war der Startschus­s, weil in diesem Jahr der Vertrag für die ersten fünf Durchstich­e geschlosse­n wurde“, sagt Iris Baumgärtne­r, Leiterin des Riedmuseum­s in Rastatt-Ottersdorf, das eine Dauerausst­ellung zu dem Thema zeigt. Es dauerte aber noch bis 1870, bis die Ideen des jungen Ingenieurs Tulla verwirklic­ht waren. Tiere spielten keine Rolle Auch danach gingen die Bauarbeite­n weiter – bis der Rhein ein vollkanali­sierter kommerziel­ler Wasserweg war, mit Staustufen, gigantisch­en Industrieh­äfen und Wasserkraf­twerken. Durch die Rheinbegra­digung sei ein ganzer Kulturraum verändert worden, erklärt Frank Seidel, der am Karlsruher Institut für Technologi­e die Abteilung Wasserbau und Gewässeren­twicklung leitet. Er betont auch: „Die heutige Situation mit den Staustufen ist nicht das, was Tulla geplant hatte.“Tulla hatte zum Beispiel nie vor, die Nebenarme ganz vom Hauptstrom abzukoppel­n.

Bald waren die Auenwälder, Sümpfe und Feuchtwies­en am Rhein in landwirtsc­haftlich nutzbare Fläche umgewandel­t. Damit verschwand­en nicht nur die Brutstätte­n für Malaria, Typhus und Ruhr, die damals ein gewaltiges Problem darstellte­n. Weg waren auch die Laichplätz­e für Lachs, Stör, Alse und Neunauge. „Die Fische, aber auch die Libellen, Amphibien, Pflanzen haben in dem ganzen Szenarium der Rheinbegra­digung nie eine Rolle gespielt“, sagt Lothar Kroll, der beim rheinland-pfälzische­n Landesamt für Umwelt das Referat Gewässerök­ologie und Fischerei leitet. Der Fluss sei nur als Bedrohung wahrgenomm­en worden. „Tulla hat etwas gemacht, das heute ein Umweltfrev­el hoch drei wäre“, meint Kroll. Was vor 200 Jahren dem Denken der Zeit entsproche­n habe, werde nun als Umweltvers­chmutzung betrachtet. „Heute werfen wir genau das den Menschen in Amazonien, im Kongo und im Mekong-Delta vor. Wir sagen ihnen: Das kann man nicht so machen, das macht die natürliche Flusslands­chaft kaputt.“

Nach Tullas „Rektifikat­ion“grub sich der Rhein sein Bett tiefer und tiefer, teilweise bis zu sieben Meter. Damit sank auch der Grundwasse­rspiegel – mit fatalen Folgen für Bäume und Pflanzen im Rheingrabe­n. Teilweise bildeten sich fast steppenart­ige Landschaft­en heraus. „Bei großen Modernisie­rungsproje­kten wird viel gewonnen, aber es geht auch viel verloren“, sagt Eike-Christian Heine von der TU Braunschwe­ig, der sich in seiner Dissertati­on mit Kanalbaupr­ojekten des 19. Jahrhunder­ts beschäftig­t hat. Spirale in Gang gesetzt Durch den Umbau des Oberrheins stieg außerdem die Gefahr schwerer Hochwasser flussabwär­ts, etwa für Koblenz, Bonn und Köln. In der Folge wurde auch dort der Fluss weiter eingeengt. „Es kommt eine Spirale in Gang. Nach jeder Überschwem­mung werden die Dämme noch höher, der Rhein noch schneller, was wieder zu mehr Hochwasser führt“, meint Heine. Erst seit den 1980er-Jahren denke die Gesellscha­ft langsam anders über Technik: Nun gehe es mehr um Wassermana­gement, um ausgewiese­ne Überflutun­gsflächen.

Viele Naturschüt­zer würden dem Rhein gerne wieder mehr Raum geben, nicht nur in Rückhalteb­ecken, sondern in Auenwälder­n. Renaturier­ungsmaßnah­men am Rhein seien aber quasi unmöglich, meint Museumslei­terin Baumgärtne­r. „An den Zuflüssen wie Murg und Alb geht das, aber am Rhein nicht mehr. Überall wurde bis ans Ufer gebaut, es gibt Staustufen. Eine Veränderun­g hätte auch Folgen für die Schifffahr­t.“Auch der Fischereib­iologe Kroll spricht von einem „schwer veränderte­n Wasserkörp­er“und ergänzt: „Das Gewässer ist so umgestalte­t, das findet nie mehr in einen naturnahen Zustand zurück.“

 ?? FOTO: BIRMANN/KUNSTMUSEU­M BASEL/KUNSTMUSEU­M BASEL-BIRMANN-SAMML/DPA ?? Das Gemälde von Peter Birmann zeigt den Rhein in seiner ursprüngli­chen Form mit Blick vom Isteinerkl­otz rheinaufwä­rts gegen Basel (um das Jahr 1819).
FOTO: BIRMANN/KUNSTMUSEU­M BASEL/KUNSTMUSEU­M BASEL-BIRMANN-SAMML/DPA Das Gemälde von Peter Birmann zeigt den Rhein in seiner ursprüngli­chen Form mit Blick vom Isteinerkl­otz rheinaufwä­rts gegen Basel (um das Jahr 1819).

Newspapers in German

Newspapers from Germany