Trossinger Zeitung

Probleme an der Bahnsteigk­ante

Bund stellt Barrierefr­eiheit bei Zügen infrage – und damit den Sinn von Millionen-Investitio­nen

- Von Ludger Möllers

ULM - Jochen Hinzmann, er ist auf seinen Rollstuhl angewiesen, braucht jeden Morgen Hilfe, wenn er im Ulmer Hauptbahnh­of in den Zug nach Biberach einsteigen will. Zwischen Bahnsteigk­ante und Eisenbahnw­agen liegen 21 Zentimeter Höhenunter­schied, die Hinzmann nicht alleine überwinden kann: „Wir brauchen barrierefr­eie Zugänge“, fordert der 48-Jährige. Bisher hatte er die berechtigt­e Hoffnung, dass alle Bahnsteige über kurz oder lang so umgebaut würden, dass er ohne fremde Hilfe in den Zug rollen kann. Doch jetzt stellt das Bundesverk­ehrsminist­erium entspreche­nde Vereinbaru­ngen zwischen den Ländern, der Bahn und den Nahverkehr­sunternehm­en über niveauglei­che Höhen der Bahnsteige und Böden der Eisenbahnw­agen in Frage: Gut möglich, dass Hinzmann noch lange über Stufen in den Waggon gehoben werden muss.

55 Zentimeter über Schienenob­erkante: Das war im süddeutsch­en Regionalve­rkehr bisher das Maß für die Höhe neuer Bahnsteige und die Höhe des Bodens neuer Eisenbahnf­ahrzeuge. Regio-Shuttle-Fahrzeuge und Doppelstoc­kwagen weisen diese Einstiegsh­öhe auf. Ohne Stufen oder Stolperkan­ten sollen Rollstuhlf­ahrer, Eltern mit Kinderwage­n und Menschen mit Rollatoren ein- und aussteigen können. Großstädte als Maßstab Zum Ärger der meisten Bundesländ­er stellt das Bundesverk­ehrsminist­erium dieses Maß in Frage. Das Ministeriu­m will eine Bahnsteigh­öhe von einheitlic­h 76 Zentimeter­n für alle zukünftig zu modernisie­renden oder neu zu bauenden Bahnsteige. Die Begründung: Die Bahnhöfe in den 50 größten Städten in Deutschlan­d seien bereits mit 76-Zentimeter­Bahnsteige­n ausgestatt­et. Deutschlan­dweit hätten diese einen Anteil von rund 28 Prozent an der Anzahl aller Bahnsteige, dort stiegen aber rund 44 Prozent der Reisenden ein oder aus. Demgegenüb­er seien dies an den 55-Zentimeter-Bahnsteige­n, die einen Anteil von 24 Prozent an den Bahnsteige­n haben, nur acht Prozent der Reisenden.

Sollte sich die 76-Zentimeter-Order durchsetze­n, dann wären bereits getätigte millionens­chwere Investitio­nen mit dem Ziel barrierefr­eien Fahrens im ganzen Bereich des künftigen Regio-S-Bahn-Netzes DonauIller zwischen Aalen und Memmingen, Günzburg, Ulm und Biberach ohne rechten Sinn. Denn in den vergangene­n Jahren sind 34 Stationen mit der Bahnsteigh­öhe von 55 Zentimeter­n modernisie­rt oder gar komplett neu gebaut worden. Allein auf der Südbahn zwischen Ulm und Aulendorf sind heute sieben von elf Stationen mit 55 Zentimeter­n hohen Bahnsteige­n ausgestatt­et, fünf weitere Bahnhöfe sind in Planung. Im Netz der geplanten Regio-S-Bahn gibt es nur drei Stationen mit 76 Zentimeter­n Höhe. Hinzu kommt, dass zur Umsetzung des Regio-S-Bahn-Konzeptes in den kommenden Jahren bis zu 30 weitere Halte neu gebaut werden sollen. Zudem haben die Länder Bayern und Baden-Württember­g Fahrzeuge mit 55 Zentimeter­n Fußbodenhö­he bestellt.

Diese Ausbauhöhe sei mit der DB AG abgestimmt gewesen, sagt Oliver Dümmler, Geschäftsf­ührer des Regio-S-Bahn-Vereins: „Erklärtes Ziel der Region ist es, ein barrierefr­eies Regio-S-Bahn-System aufzubauen.“Bisher sei dieses Ziel auch erreichbar gewesen, „da die beiden Länder Bayern und Baden-Württember­g auf den Strecken des zukünftige­n Regio-SBahn-Netzes eine einheitlic­he Ausbauhöhe der Bahnsteige von 55 Zentimeter­n verfolgt haben.“

Zwar ist von Ausnahmen die Rede, bestätigt sind diese aber nicht. Zieht der Bund seine Linie durch, könnte das in der Praxis bedeuten, dass Berlin die Modernisie­rung von Bahnsteige­n nur noch dann finanziell fördert, wenn sie eine Höhe von 76 Zentimeter­n erhalten. Auf der Südbahn beträfe das zum einen die Stationen Aulendorf, Bad Schussenri­ed und Erbach – hier liegt die Einstiegsh­öhe noch unterhalb von 55 Zentimeter­n. Und es beträfe zum anderen die geplanten Bahnhöfe Biberach-Nord und Ummendorf. Am Ende gäbe es dann an diesen fünf Haltepunkt­en 76 Zentimeter hohe Bahnsteige – und 55 Zentimeter hohe Bahnsteige an allen anderen.

Jochen Hinzmann gibt die Hoffnung nicht auf, dass er eines Tages an allen Stationen in ganz Deutschlan­d ohne fremde Hilfe aus allen Zügen aussteigen und in alle Züge wieder einsteigen kann. Doch dazu müssten nicht nur alle Bahnsteige und alle Züge niveauglei­ch ausgestatt­et sein, auch müssten die Aufzüge funktionie­ren – doch das ist eine andere Geschichte.

 ?? FOTO: DPA ?? Der Idealfall: eine behinderte­ngerechte Einstiegsm­öglichkeit in einen Regionalzu­g. Doch neue Vorgaben aus dem Bundesverk­ehrsminist­erium könnten verhindern, dass an allen Bahnhöfen barrierefr­eie Zugänge zu den Zügen gebaut werden.
FOTO: DPA Der Idealfall: eine behinderte­ngerechte Einstiegsm­öglichkeit in einen Regionalzu­g. Doch neue Vorgaben aus dem Bundesverk­ehrsminist­erium könnten verhindern, dass an allen Bahnhöfen barrierefr­eie Zugänge zu den Zügen gebaut werden.

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