„Althergebrachtes wird auf den Kopf gestellt“
Beim neunten Innovationsforum Medizintechnik wird über die Auswirkungen radikal-neuer Lösungen diskutiert
TUTTLINGEN - Welche Wege geht die Medizintechnik in den nächsten Jahren? Mit dieser Frage haben sich mehr als 300 Teilnehmer beim neunten Innovationsforum Medizintechnik in der Stadthalle Tuttlingen beschäftigt. Klar scheint: Es stehen große Herausforderungen bevor.
Um weiter erfolgreich am Markt bestehen zu können, müsste Vorhandenes verbessert und bei Innovationen radikaler (disruptiv) gedacht werden. Das Problem ist: Auf den Wandel kann man sich nur schwer einstellen. „Disruptive Innovationen kommen unerwartet. Althergebrachtes wird auf den Kopf gestellt“, sagte Prof. Dr. Roland Zengerle, Institutsleiter der Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte Forschung. Dies hätten Versandhändler Amazon, Internetsuchmaschine Google, die anhand von Mustern schon wüsste, was der Nutzer bald suchen werde, oder Uber (Zengerle: „Ein Taxiunternehmen ohne ein eigenes Taxi“) schon bewiesen.
Auch in der Medizintechnik habe es disruptive Innovationen schon gegeben, meinte Dr. Harald Stallforth, Vorstandsvorsitzender von Veranstalter Technology Mountains. Als Beispiele nannte er die Einführung der Computer-Unterstützung für Chirurgen oder die Vermehrung von Zellen außerhalb des menschlichen Körpers. In welchen Bereichen es bald neue Lösungen geben werde, sei schwer vorherzusagen. Stallforth meinte aber, dass zuerst über die Anwendung und dann über die Technologie nachgedacht werden müsse. „Es gibt Bereiche, in denen es keine wirkliche Lösung gibt. Wie bei Parkinson, Alzheimer, Herzkrankheiten oder Beschwerden an der Wirbelsäule. Aufpassen, dass Regeln nicht Firmen „strangulieren“Die harten Standortfaktoren für Innovationen würden stimmen, sagte Thomas Albiez, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Schwarzwald-Baar-Heuberg. Dazu zählen Infrastruktur, Bildungsinfrastruktur, Gewerbeflächen und Wohnraum im ländlichen Bereich. „Was es erschwert, ist die Bürokratie.“Viele Unternehmen hätten Probleme, die „Regulatorik zu bewältigen“. Es gebe kaum noch Gründergesuche. „Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht selbst strangulieren und uns international das Leben schwer machen“, sagte Albiez und forderte „Rückenwind von der Politik. Wir brauchen freie Bahn“.
Landrat Stefan Bär erklärte, dass der Landkreis die Medizintechnikbranche tatkräftig unterstützen würde. Mit 25 Millionen Euro werde der Ausbau des schnellen Internets gefördert. Zudem habe sich die Verwaltung auch schon am Tuttlinger Hochschulcampus und des Innovationsund Forschungszentrums (IFC) beteiligt. „Wir tun schon einiges“, meinte Bär. Als Innovation nannte er die Optimierung der Rettungskette, bei der die Daten vom Patienten schon vor der Ankunft im Klinikum vom Rettungswagen übermittelt würden.
Yvonne Glienke aus dem Vorstand von Medical Mountains meinte, dass die zunehmende Bürokratie wie die europäische Medizinprodukteverordnung eine weitere Herausforderung für die Unternehmen darstellen und die Innovationskraft sinken würde. „Bleibt den Firmen überhaupt die Zeit, Neues zu erdenken“, fragte Glienke beim Eröffnungstalk. Erste Schritte zur Innovation könnten gerade auf Foren wie dem in Tuttlingen getan werden, meinte Zengerle. „Sie müssen sich vernetzen, lassen Sie sich innovieren.“Schließlich würde einiges auf die Medizintechnik-Branche zukommen. „Lassen Sie uns das gestalten.“
Während des Innovationsforums hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, neben dem direkten Austausch – es waren Menschen aus acht Nationen und Delegationen aus den USA, Finnland und den Niederlanden vor Ort – auch Vorträge zu hören oder an Diskussionsrunden teilzunehmen.