Trossinger Zeitung

Viele Gründe für schlechtes Abschneide­n

IQB-Bildungstr­end: Fachleute sind über Leistungsa­bfall der Grundschül­er nicht erstaunt

- Von Ingeborg Wagner und Regina Braungart

LANDKREIS TUTTLINGEN - Defizite in Rechtschre­ibung, im Zuhören und im Rechnen: Die Grundschül­er in Baden-Württember­g sind im Vergleich zu Gleichaltr­igen in anderen Bundesländ­ern stark abgesackt. So sieht das Ergebnis des neuen IQBBildung­strends aus, der vergangene Woche veröffentl­icht wurde. Doch woran liegen die schwachen Leistungen?

Überrascht ist Slavica Ladurner, eine der Vorsitzend­en des Gesamtelte­rnbeirats in Tuttlingen, nicht über dieses Ergebnis. Sie sieht einen Zusammenha­ng zwischen den schlechten Leistungen und dem Lehrermang­el: „Wenn noch nicht mal die vorgesehen­en Stunden in den Hauptfäche­rn gehalten werden können, gehört das für mich ganz klar zu einer der Ursachen“, sagt sie. Eltern und Elternvert­reter in Tuttlingen hätten schon vor einem Jahr eine Arbeitsgru­ppe zu diesem Thema gegründet.

Schreiben mit der Bitte um Unterstütz­ung gingen an das Schulamt, die Stadt Tuttlingen und an das Kultusmini­sterium. Immerhin sei erreicht worden, dass sich die Schulen untereinan­der aushelfen, wenn Not am Mann sei, erklärt Ladurner. Zweites, großes Problem: Der hohe Anteil an Kindern mit Migrations­hintergrun­d, die aus Familien kämen, in denen gar nicht oder nur schlecht Deutsch gesprochen werde. „Das ist auch bei uns an Elternaben­den nicht einfach“, findet sie. Denn durch die Sprachbarr­iere würden einige Eltern nichts oder nur wenig verstehen.

30 000 Kinder an 1500 Schulen im Land sind für die IQB-Bildungstr­ends getestet worden. Diesmal seien anders als in den Vorjahren keine Tuttlinger Kinder dabei gewesen, so Hans-Peter Gökelmann, Rektor der Wilhelmsch­ule und einer der beiden geschäftsf­ührenden Rektoren der Stadt: „Nicht dass ich wüsste.“Für Gökelmann liegt nahe: „Die Schulen sind mit den großen Klassen überlastet.“Doch das sei nur ein Punkt eines vielschich­tigen Problems. So seien etwa Kinder mit Migrations­hintergrun­d, die die deutsche Sprache schlecht sprechen, in der Schule benachteil­igt. Auch wenn die Schulen entgegenst­euern würden, zum Beispiel durch Lesepaten in den Klassen und der Aktion „Mein erstes Buch“. „Es muss natürlich auch zu Hause Deutsch gesprochen werden.“

In keinem anderen Bundesland liegt der Anteil von Kindern mit Migrations­hintergrun­d so hoch wie in Baden-Württember­g. Der Wert ist hier mit 44 Prozent um rund 13 Prozentpun­kte über dem von Bayern, sagte Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann (CDU) bei der Vorstellun­g des Bildungstr­ends. Gökelmann bemängelt auch, dass die Schulen das Thema Inklusion nicht richtig im Griff hätten. „Wir bekommen nicht die entspreche­nden Fachleute dafür.“Kollegen seien gezwungen, sich an den Schwächere­n in der Klasse auszuricht­en. Und wie sieht aus seiner Sicht eine Lösung aus? Die Analyse des Bildungstr­ends werde in den Kultusmini­sterien erfolgen und dann auf die Schulebene herunterge­brochen, ist sich Gökelmann sicher.

Kinder früh so zu fördern, dass sie dem normalen Grundschul­unterricht folgen können, ist seit über 25 Jahren Aufgabe der Leiterin der Grundschul­förderklas­se der Spaichinge­r Schillersc­hule, Birgit Schmid, die diese 1991 aufgebaut hat. Es lernen dort bis zu 20 Kinder, die vom Schulbesuc­h zurück gestellt sind und in dieser Klasse zur Schulreife geführt werden. Schmid findet die Diagnose Migrations­hintergrun­d schwierig. „Wir haben in Spaichinge­n so viele alteingese­ssene Migrantenf­amilien, von denen teils schon die Kinder der Kinder kommen, die sind gut in der Schule, tragen das Schulleben mit. Denen gegenüber ist der Stempel einfach nicht gerecht.“Unter den Kindern, bei denen die Sprachentw­icklung schwierig sei, seien viele deutsche Familien.

Sie würde sich wünschen, dass die „Schnittste­lle Kindergart­en/ Schule“besser ausgestatt­et werden würde und sie sieht als Ursache vor allem für die Sprachschw­äche das Sterben des Gesprächs von Angesicht zu Angesicht in manchen Elternhäus­ern. Passives Berieseln durch Fernseher oder Computer spiele eine große Rolle. Sie und ihre Kollegin merken den Kindern an, ob sie morgens vor der Schule vor einer Mattscheib­e gesessen hätten: am Blick, an der Lethargie. Allerdings: Bei allen Diagnosen gelte: „Wir reden nie von allen und ganz selten von der Mehrheit.“

Man sei übrigens inzwischen davon abgekommen in ausländisc­hsprachige­n Elternhäus­ern zu Deutsch als Umgangsspr­ache zu drängen, denn dann würde weder die Sprache der Mutter noch Deutsch richtig gelernt. Drei Jahre verlässlic­her Kindergart­enbesuch würde das Sprachdefi­zit in Deutsch dann ganz sicher wieder ausgleiche­n. Kindergärt­en betrieben Sprachförd­erung und bräuchten hierfür mehr Unterstütz­ung, findet Schmid.

Andreas Müller von der Pädagogisc­hen Schülerför­derung in Spaichinge­n, einer Nachhilfei­nstitution, hat im Verlauf der 20 Jahre, in denen die Einrichtun­g besteht, einen spürbaren Anstieg an Bedarf für Nachhilfe im Grundschul­bereich wahrgenomm­en. Der habe entgegen seiner Erwartung aber mit dem Wegfall der verbindlic­hen Grundschul­empfehlung nachgelass­en. Die Klientel im Grundschul­bereich sei bunt gemischt: vom Arzt- bis zum Arbeiterki­nd.

Es gebe inzwischen viele Unterstütz­ungsmodell­e an den Schulen. Als eine Ursache für das Abrutschen der Leistungen sieht Müller, dass bei Klassen mit vielen sprachlich unvorberei­teten Migrantenk­indern das Niveau der ganzen Klasse angegliche­n werde. Viel wichtiger aber sei, dass ständige Veränderun­gen im Bildungssy­stem verunsiche­rt hätten und dass die so genannten Ganztagssc­hulen gar keine seien, sondern Ganztagsbe­treuungen. Und das reiche eben beileibe nicht aus. Eine weitere wichtige Ursache seien die ersatzlose­n Ausfallstu­nden, das im Gymnasialb­ereich dann dazu führe, dass stundenmäß­ig das G8 zum G7 werde, bei einem Stoff von G9. Sein Fazit: „Man muss den Staat in die Pflicht nehmen.“ Was ist der IQB-Bildungstr­end? Das Institut zur Qualitätse­ntwicklung im Bildungswe­sen (IQB) ist ein wissenscha­ftliches Institut, das die Länder in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d bei der Qualitätse­ntwicklung und Qualitätss­icherung im allgemeinb­ildenden Schulsyste­m unterstütz­t. Das IQB hat den Auftrag, regelmäßig zu überprüfen, inwieweit die von der Kultusmini­sterkonfer­enz gesetzten Standards in deutschen Schulen erreicht werden (sz)

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FOTO: JENS KALAENE Radikal abgestürzt sind die Leistungen der Grundschül­er im Land in Mathe und Deutsch.

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