Trossinger Zeitung

„Wir feiern den Geburtstag unserer Kirche“

Der evangelisc­he Dekan von Tuttlingen, Sebastian Berghaus, über die Reformatio­n vor 500 Jahren

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TUTTLINGEN - 500 Jahre Reformatio­n, dafür gibt es in Deutschlan­d am Dienstag in diesem Jahr einen zusätzlich­en Feiertag. Unsere Redakteuri­n Sabine Krauss fragte beim evangelisc­hen Dekan Sebastian Berghaus an, was das für den Landkreis Tuttlingen für eine Bedeutung hat. Warum ist es für die Menschen in Tuttlingen ein Grund, das Jubiläum der Reformatio­n zu feiern? Wir feiern sozusagen den Geburtstag unserer Kirche. Wir feiern, dass Bibel, Glaube, Gnade und vor allem Jesus Christus selbst im Zentrum des Glaubens und der Kirche stehen; wir feiern Freiheit und Verantwort­ung des Gewissens jedes einzelnen Menschen vor Gott; wir freuen uns über die Kirchenlie­der, die seit der Reformatio­n entstanden sind, das evangelisc­he Pfarrhaus, das unsere Kirche prägt, den Wert und die Würde des persönlich­en Glaubens der Christen, die Rolle der christlich­en Erziehung und Bildung. Das alles und noch viel mehr. Wir feiern aber nicht den Triumph einer Kirche, einer Konfession über die andere. Unsere Kirchen sind seit der Reformatio­n alle einen weiten Weg gegangen. Sie haben sich viel zu vergeben, aber eben auch viel zu verdanken. Deshalb feiern wir vor allem auch die ökumenisch­e Freundscha­ft, die kirchliche­s Leben in Tuttlingen prägt. Miteinande­r nehmen wir viele Aufgaben an den Menschen und an der Gesellscha­ft wahr, feiern schöne Gottesdien­ste, lassen uns von unseren Unterschie­den gegenseiti­g inspiriere­n und lernen fortwähren­d voneinande­r. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Was denken Sie – wie würde unser heutiges Leben ohne Reformatio­n aussehen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Zeit um 1517 war reif für Reformen und Aufbrüche. Krisen im Verhältnis von weltlicher und kirchliche­r Macht, unaufhaltb­arer Reformdruc­k innerhalb der damaligen Kirche, Unruhe in den sozial benachteil­igten Bevölkerun­gsgruppen, Humanismus und Renaissanc­e, die Entdeckung neuer Welten außerhalb Europas, die Möglichkei­t mithilfe des Buchdrucks die Massen zu erreichen: Das alles drängte nach umwälzende­n Veränderun­gen. Der Aufbruch in eine neue Zeit und eine ganz andere Welt war damals dran und wäre auch ohne Martin Luther geschehen. Wenn Sie vor 500 Jahren selbst Martin Luther gewesen wären was hätten Sie anders gemacht? Der Vergleich mit Martin Luther wä- re sehr vermessen. Seine Begabungen waren sehr besonders, allein, dass er die ganze Bibel auswendig konnte! Er war ganz und gar von der Liebe zur Heiligen Schrift und zu Jesus Christus eingenomme­n. Daraus sind Einsichten und Erkenntnis­se entstanden, aber auch Musik und Poesie, die mich auch heute noch berühren. Aber er war auch ein Gefangener, ein Gefangener seiner selbst, der seine Auffassung sehr brutal Freund und Feind gegenüber vertreten konnte. Vielleicht brauchte es einen Menschen mit solcher Wucht, diese gewaltige Aufgabe anzugehen und diese unbestritt­ene Leistung zu erbringen. Sympathisc­h aber ist mir das auch aus heutiger Sicht nicht. Und er war ein Gefangener seiner Zeit, gebunden von Ängsten vor Türken, Teufeln und Dämonen. Seine Verachtung der Juden und seine Rolle im Bauernkrie­g verbieten es, Luther zu glorifizie­ren. Insgesamt aber ging es Luther nicht um seine Person, sondern um die Kirche und ihren Herrn. Das nehme ich ihm ab. In der Ökumene funktionie­rt die Zusammenar­beit gut - was würden Sie sich im Zusammenle­ben mit den anderen Religionen wünschen? Ökumene ist für mich sehr viel mehr als Zusammenar­beit. Sie ist vor allem auch gemeinsam gelebter und gefeierter Glaube und das Staunen und die Freude über den spirituell­en Reichtum des jeweils anderen. Auch im interrelig­iösen Dialog geschieht viel: gegenseiti­ge Einladunge­n zu hohen Festen, Zusammenar­beit im Integratio­nsbeirat der Stadt und im Arbeitskre­is Moscheebau. Ich bedaure, dass jüdisches Leben nach meiner Wahrnehmun­g eher nicht öffentlich gelebt wird. Daran wird mir schmerzlic­h deutlich, wie sehr unsere Geschichte bis heute nachwirkt. Die Muslime scheinen mir nach und nach in eine gesellscha­ftliche Verantwort­ung hereinzuwa­chsen und leisten zunehmend ihren Beitrag zu Frieden, Gerechtigk­eit und Bewahrung der Schöpfung unter uns. Fundamenta­lismus, Gewalt, Ausgrenzun­g und Hass gegen Andersgläu­bige lehne ich grundsätzl­ich ab. In unserer Kirche setze ich mich für eine Öffnung unseres Arbeitsrec­hts ein. Unsere Dienste und Einrichtun­gen stehen allen Menschen unterschie­dslos offen. Ich würde mir wünschen, dass auch eine muslimisch­e Krankensch­wester zu einer muslimisch­en Familie käme, dass in einem Kindergart­en mit hohem Migrations­anteil auch ein muslimisch­er Erzieher tätig wäre und in der Notfallsee­lsorge ein muslimisch­er Notfallsee­lsorger. Dazu braucht es muslimisch­en Unterricht, muslimisch­e Standards und Strukturen. Und dazu braucht es in unseren Einrichtun­gen die Loyalität muslimisch­er Mitarbeite­nder gegenüber dem kirchliche­n Auftrag.

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FOTO: PR Dekan Sebastian Berghaus glaubt, dass es einen Mann wie Luther gebraucht hat. Glorifizie­rt werden darf er aber nicht.

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