Ge(h)denken
mmer wieder muss sie daran denken, über welche Wege, vor allem über welche Umwege sie hierhergekommen ist. Und: „Wie wir angesehen und behandelt wurden. Wir sprachen ja kein schwäbisch.“Und sie? Sie muss an die Erzählungen ihrer Mutter denken. Dass sie zunächst dem Tod entkommen waren. Was sie aber dann Schlimmes gesehen, mitgemacht und ausgehalten haben und was sie unterwegs erlebt haben.
Iris Berben gedachte bei ihrer Lesung an die 18-jährige Selma Meerbaum-Eisinger, die ermordete junge jüdische Lyrikerin. Die Stolpersteine in Tuttlingen lassen uns stolpern und gedenken. An Menschen. Was mit ihnen geschah. Was sie mitmachten. In diesen Tagen gedenken wir fragend: „Was ist der Mensch“? (Psalm 8). Dass er fähig wird, anderen das Leben zur Hölle zu machen, zu diffamieren, zu hetzen, zu missbrauchen, zu vertreiben, zu töten. „Was ist der Mensch?“Fragt der Beter Gott, für dich? „dass du seiner gedenkst“, angesichts dessen, was Menschen erleiden und sich antun?
„Wenig niedriger gemacht als Gott“ist der Mensch, lautet die überraschende Antwort. Ich verstehe das so: Dass wir uns von Mensch zu Mensch menschenwürdig begegnen, mit Respekt, mit Köpfchen eben, reflektiert. Ganz besonders, wenn ich Ansichten regelrecht unappetitlich und abstoßend, ja gefährlich finde, wenn ich das Menschenbild meines Gegenübers ablehne.
Das Gedenken führt mich näher an Menschen heran, an ihr Ergehen, an ihr Schicksal. Das Gedenken lehrt mich, welches entsetzliches Unheil Freund-Feind-Schablonen anrichten. Das Gedenken lehrt mich tatsächlich hinzugehen, hinzuhören, nachzufragen. Es lehrt mich, nachzudenken. Es regt mich an, nicht allein im vertrauten Kreis Gleichgesinnter zu verharren. Die Tage des Gedenkens sagen uns: Geh (nach)denken, bevor du mit deiner Meinung schon fertig bist und mit deinem Weltbild, bevor du schimpfst, wetterst, hetzt und einfach Parolen ausgibst, losschreibst, postest oder twitterst. Gedenke! Geh! Denke. Pfarrer Jens Junginger, Stadtkirche Tuttlingen