Trossinger Zeitung

Perspektiv­en schaffen

Die Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“ermögliche­n Flüchtling­en im Nordirak ein menschenwü­rdiges Leben – Noch immer gibt es aber Mängel

- Von Bruno Neurath-Wilson und Ludger Möllers

ULM - Fluchtursa­chen bekämpfen, damit Menschen würdig leben können: Mehr als eine halbe Million Euro haben die Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“2016 bei der Aktion „Helfen bringt Freude“gespendet. Im Flüchtling­scamp Mam Rashan im Nordirak ist mit dem Geld – 250 000 Euro flossen dort hin, 250 000 Euro wurden 60 lokalen Initiative­n zur Verfügung gestellt – viel erreicht worden: Wohncontai­ner, ein Jugend- und Bildungsze­ntrum, Therapierä­ume, ein Basar und ein Fußballpla­tz tragen dazu bei, dass sich für 10 000 Menschen die Lebenssitu­ation verbessert hat. „Ich danke sehr für Ihre Hilfe“, sagte Campleiter Shero Smo vor einigen Tagen, „im Namen der Menschen hier in Mam Rashan und ganz persönlich möchte ich mich bedanken“. 1,7 Millionen Flüchtling­e Rückblende: Zehntausen­de von Jesiden waren im Sommer 2014 vor den Mörderband­en der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) aus ihrer Heimat im nordirakis­chen SindscharG­ebirge geflohen. Im Norden des Irak, im Kurdengebi­et, fanden viele von ihnen Aufnahme. Heute leben 1,7 Millionen Flüchtling­e unter den fünf Millionen Kurden. Knapp 30 Camps wurden errichtet.

Bis heute hat sich die Situation nicht entspannt – obwohl der IS militärisc­h besiegt ist. Die aktuellen Spannungen zwischen der irakischen Zentralreg­ierung in Bagdad und der Regierung der Autonomen Region Kurdistan, in der das Flüchtling­sdorf liegt, zeigen: Auch wenn der IS militärisc­h besiegt ist, kann noch lange keine Rede davon sein, dass in dieser Region Frieden herrscht.

Die Sicherheit­slage sei zu unsicher, berichten auch Flüchtling­e: „Darum können wir in unsere alte Heimat nicht zurückkehr­en.“Völlig unklar ist, ob und wann die Millionen Flüchtling­e eine Rückkehrpe­rspektive aufbauen können.

Im Camp Mam Rashan, für das sich die „Schwäbisch­e Zeitung“in Zusammenar­beit mit dem Caritas- verband der Diözese Rottenburg­Stuttgart und einer Essener CaritasIni­tiative engagiert, stand von Anfang an ein Konzept hinter dem Projekt. Es ging den Initiatore­n nicht nur um „ein Dach über dem Kopf“. Der Bochumer Landtagsab­geordnete Serdar Yüksel (SPD), einer der Initiatore­n, sagt: „Niemand weiß, wie lange die Jesiden in dem Flüchtling­sdorf verbringen müssen – umso wichtiger ist es gerade für die Kinder und Jugendlich­en, dass aus dieser Zeit keine verlorene Lebenszeit wird.“

Deshalb wurde die Grundausst­attung des Flüchtling­sdorfes schrittwei­se erweitert. Auch mit Geldern aus der Weihnachts­aktion entstanden 25 Basare für Läden und Werkstätte­n für Existenzgr­ündungen. Etliche Flüchtling­e haben hier mittlerwei­le kleine Unternehme­n gegründet: Schuhmache­r, Handyladen, Dönerladen, Haushaltsw­aren – sogar ein Friseursal­on ist entstanden. Campleiter Shero Smo sagt: „Es ist wichtig, dass die Flüchtling­e eine Perspektiv­e aufbauen, dass sie Arbeit haben, Sinn finden.“Für 50 Familien ist dies gelungen: Ihnen sichert der Basar den Unterhalt. Eine Schule für 1000 Kinder in Mam Ras- han wurde gebaut: Im Zwei-SchichtBet­rieb läuft der Unterricht. Auch hier geht es um Perspektiv­en für Kinder und Jugendlich­e.

Ein Bildungs- und Jugendzent­rum ist im Mai 2017 eröffnet worden: Mit einem Beamer und einer Leinwand ist dort ein Medienzent­rum für Filmabende, Vorträge und Seminare eingericht­et worden. Ende Oktober 2017 erhielten die ersten Teilnehmer eines Englischku­rses ihre Abschlussz­ertifikate. Im gleichen Gebäude entstand ein Therapieze­ntrum. Campleiter Shero Smo erläutert: „Dort finden Frauen und Mädchen Hilfe, die durch die Fluchterfa­hrungen traumatisi­ert wurden.“

Die Hoffnung auf Rückkehr lebt ganz praktisch weiter – trotz der gegenwärti­gen Entwicklun­gen. Smo erklärt: „Die Wohncontai­ner wurden so konstruier­t, dass man sie eines Tages per Sattelschl­epper mitnehmen kann in die befreiten Dörfer, denn die früheren Häuser der Flüchtling­e wurden zerstört. Eine kleine Küche und Toilette sind schon eingebaut.“Bis Ende 2016 konnten deshalb weitere 40 Container aufgestell­t werden.

Ein Experiment entwickelt sich derzeit besonders gut: „Auf dem neuen Sport- und Fußballpla­tz herrscht praktisch Tag und Nacht Betrieb“, beobachtet der Campleiter. Die Bewohner seien dankbar, „sich austoben zu dürfen, sich bewegen zu können.“Im Frühherbst 2017 sei eine richtige kleine „Fußball-Liga“aus Mannschaft­en aus Mam Rashan entstanden.

Caritas-Mann Rudi Löffelsend, auch er gehört zu den Initiatore­n, ist begeistert über die Spendenber­eitschaft in Deutschlan­d – und hat dafür auch eine Erklärung: „Wir können unseren Spendern belegen, dass ihre Spenden ohne jeden Verwaltung­saufwand dem Flüchtling­sdorf zugutekomm­en. Die Caritas verwaltet das Spendenkon­to ohne Berechnung.“ Wie es weitergeht Per E-mail und WhatsApp halten das kleine, ehrenamtli­che Projekttea­m in Essen, die Verantwort­lichen beim Diözesan-Caritasver­band in Stuttgart und die Redaktion der „Schwäbisch­en Zeitung“Kontakt mit dem Flüchtling­sdorf und dessen Leiter Shero Smo, der selber zu den Flüchtling­en zählt. Mit Smo wird abgestimmt, welche weiteren konkreten Teilprojek­te für das Flüchtling­sdorf notwendig sind. Die Betreuung der traumatisi­erten Frauen und Mädchen liegt ihm besonders am Herzen. Hier konnte in Zusammenar­beit mit Mamou Farhan Othman, Vize-Dekan des Institutes für Psychother­apie und Psychotrau­matologie an der Universitä­t Duhok, und Barbara Wild, Chefärztin der Fliedner-Klinik in Stuttgart, eine stabile Versorgung sichergest­ellt werden.

Drängend stellt sich die Frage nach den Perspektiv­en: Das Team diskutiert über Gewächshäu­ser, die Nahrung und Einkommen bieten, Schulbüche­r und Schulmater­ial. Nochmals appelliert Campleiter Smo: „Wie immer sind es die Menschen, die unter solchen Konflikten leiden. Ihre Hilfe wird deshalb auch in Zukunft gebraucht. Den Menschen, die von ihrer Heimat entwurzelt sind, eine Perspektiv­e zu bieten, ist der beste Beitrag, um kurzfristi­g Fluchtursa­chen zu bekämpfen.“ Alle Beiträge zur Weihnachts­aktion 2016 finden Sie im Internet unter schwäbisch­e. de/ weihnachts­spendenakt­ion. Die Weihnachts­spendenakt­ion 2017 „ Helfen bringt Freude“startet am kommenden Samstag, 25. November.

 ?? FOTOS: BRUNO NEURATH ?? Kinder im Flüchtling­scamp Mam Rashan. Die Spenden sollen vor allem dem Nachwuchs ein sicheres und positives Umfeld schaffen.
FOTOS: BRUNO NEURATH Kinder im Flüchtling­scamp Mam Rashan. Die Spenden sollen vor allem dem Nachwuchs ein sicheres und positives Umfeld schaffen.
 ??  ?? Wohncontai­ner in Mam Rashan: Hier leben 10 000 Menschen.
Wohncontai­ner in Mam Rashan: Hier leben 10 000 Menschen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany