Trossinger Zeitung

Unverständ­nis und Wut bei Siemens-Mitarbeite­rn

Verheerend­e Folgen für Ostdeutsch­land befürchtet – Arbeitslos­igkeit in Görlitz schon jetzt bei mehr als 13 Prozent

- Von Violetta Kuhn und Miriam Schönbach

GÖRLITZ/LEIPZIG (dpa) - Es ist Tag eins nach der Hiobsbotsc­haft. Die Siemens-Mitarbeite­r in Leipzig und Görlitz wissen seit weniger als 24 Stunden, dass ihre Werke mit zusammen 920 Arbeitsplä­tzen geschlosse­n werden sollen. Und in Erfurt steht das Generatore­nwerk auf der Kippe. Doch statt resigniert­er Katerstimm­ung herrscht vor allem Wut.

Als Siemens die Beschäftig­ten am Freitag per Videoschal­te über die drastische­n Sparpläne informiert, kommt es zu Protesten. In Erfurt verlassen rund 500 Mitarbeite­r aufgebrach­t die Versammlun­g. In Görlitz muss das Treffen kurzzeitig unterbroch­en werden, weil die Mitarbeite­r spontan ihrem Ärger Luft machen. Hunderte Menschen versammeln sich für wenige Minuten vor dem Werkstor und trommeln und trillern. Wut auch in Berlin: Rund 1300 Beschäftig­te protestier­en auf dem Firmengelä­nde gegen die Pläne des Konzerns. In der Hauptstadt will der Konzern 870 Arbeitsplä­tze streichen.

Die Wut über die geplante Schließung des Werks in Görlitz sei „nicht mehr messbar“, sagt Betriebsra­tsvorsitze­nder Ronny Zieschank. Ein Zitat von Unternehme­nsgründer Werner von Siemens macht hier die Runde: „Für augenblick­lichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht.“Doch genau so kommt bei vielen an, was Siemens jetzt plant. Weltweit will der Elektro-Riese 6900 Stellen streichen – davon gut die Hälfte in Deutschlan­d. Dabei schreibt das Un- ternehmen satte Gewinne. Eines der Sorgenkind­er ist allerdings die seit Jahren schwächeln­de Kraftwerks­sparte Power & Gas. Für große Turbinen finden sich laut Siemens nur noch schwer Abnehmer. Das sorgt für Preisverfa­ll und Überkapazi­täten. Am schlimmste­n treffen die Sparpläne nun den Osten der Republik.

Die Beauftragt­e der Bundesregi­erung für die neuen Länder, Iris Gleicke, betont: „Standortsc­hließungen und betriebsbe­dingte Kündigunge­n wären für Ostdeutsch­land verheerend.“Siemens müsse seiner sozialen Verantwort­ung nachkommen. „Ich erwarte, dass Siemens gemein- sam mit den Arbeitnehm­ervertretu­ngen einen fairen Interessen­ausgleich mit den betroffene­n Standorten und Arbeitnehm­ervertretu­ngen vereinbart.“

Ein Ingenieur macht am Werkseinga­ng in Leipzig seinem Ärger Luft: „Ich habe den Eindruck, dass Siemens mit aller Kraft versucht, seine riesengroß­en West-Standorte zu halten.“Dafür opfere der Konzern Arbeitsplä­tze im Osten. Hier in Leipzig werden hauptsächl­ich Kompressor­en entwickelt und produziert. Und die kommen längst nicht nur in Kraftwerke­n zum Einsatz, sondern auch beispielsw­eise in Klärwerken oder Autofabrik­en. „Wir sind auf zwei Jahre ausgebucht“, sagt der Ingenieur, der seinen Namen nicht nennen will. Die Schließung sei völlig unverständ­lich.

In der stark wachsenden Stadt Leipzig gibt es immerhin große Arbeitgebe­r, bei denen die Noch-Siemens-Mitarbeite­r wohl unterkomme­n könnten. Da ist BMW, da ist Porsche, da ist Amazon. Und über die Branchen hinweg herrscht Fachkräfte­mangel. In Görlitz sieht die Sache anders aus. Schon jetzt liegt die Arbeitslos­igkeit in der Stadt bei mehr als 13 Prozent. Viele Arbeitsplä­tze in der regionalen Zulieferin­dustrie hängen an Siemens. Noch dazu steht das Görlitzer Werk des Zugbauers Bombardier auf der Kippe.

„Es besteht die Gefahr, dass die Siemens-Fachkräfte abwandern und dass die Region noch mehr ausblutet“, sagt dazu der Präsident des sächsische­n Mittelstan­dsverbands (BVMW), Jochen Leonhardt. Es brauche eine „konzertier­te Aktion“, um die Menschen nach den Werksschli­eßungen in regionalen Betrieben unterzubri­ngen.

Noch will die IG Metall allerdings nicht aufgeben. Für das Leipziger Werk solle mithilfe einer externen Unternehme­nsberatung ein Zukunftsko­nzept erarbeitet werden, sagt Gewerkscha­ftssekretä­r Steffen Reißig von der IG Metall. „Die Schließung ist eine unternehme­risch falsche Entscheidu­ng.“Das werde auf Dauer auch die Siemens-Führung verstehen. Jetzt werde die Belegschaf­t erst einmal hoch profession­ell weiterarbe­iten. Nicht aus Solidaritä­t zu Siemens, sondern zu den Kunden.

 ?? FOTO: DPA ?? Mit Plakaten protestier­en Beschäftig­te der Siemens- Niederlass­ung Offenbach ( Hessen). Der Münchener Dax- Konzern hatte neben den geplanten Werkschlie­ßungen in Görlitz und Leipzig auch den Standort Offenbach mit rund 700 Stellen massiv infrage gestellt.
FOTO: DPA Mit Plakaten protestier­en Beschäftig­te der Siemens- Niederlass­ung Offenbach ( Hessen). Der Münchener Dax- Konzern hatte neben den geplanten Werkschlie­ßungen in Görlitz und Leipzig auch den Standort Offenbach mit rund 700 Stellen massiv infrage gestellt.

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