Trossinger Zeitung

„Sicherheit muss man ganzheitli­ch betrachten“

CDU-Verteidigu­ngsexperte Roderich Kiesewette­r sieht in Pesco eine Möglichkei­t zur besseren Koordinier­ung der europäisch­en Streitkräf­te

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RAVENSBURG - Pesco kann eine Chance für eine eigenständ­ige europäisch­e Verteidigu­ng sein. Das sagt Roderich Kiesewette­r, CDU-Bundestags­abgeordnet­er für den Wahlkreis Aalen-Heidenheim und Verteidigu­ngsexperte, im Gespräch mit Daniel Hadrys. Kiesewette­r fordert jedoch weitere Schritte. Herr Kiesewette­r, das Verteidigu­ngsbündnis Pesco wird nun von vielen Seiten als „Meilenstei­n“gepriesen. Für wie revolution­är halten Sie die Vereinbaru­ng tatsächlic­h? Ich halte die Vereinbaru­ng für überfällig. Wir haben viele Jahre verloren in der Diskussion um eine verbessert­e europäisch­e Verteidigu­ngsfähigke­it. Aus meiner Sicht fehlen bei Pesco aber die Bemühungen um innereurop­äische Interopera­bilität – also schnittste­llenfreie Funk- und Führungsin­formations­systeme zur verbessert­en Kommunikat­ion. Auch fehlt das Thema Standardis­ierung. Europa hat 178 verschiede­ne Waffensyst­eme, die USA nur 30. Solche schwierige­n Themen sind auf die lange Bank geschoben. Pesco ist ein sehr weicher Beginn – weitere, konkrete Schritte müssen nun angegangen werden. Es gab immer wieder Vorstöße und Ideen für eine gemeinsame europäisch­e Verteidigu­ngspolitik. Woran hat es Ihrer Meinung nach bislang gefehlt? In den Nato- und EU-Staaten gibt es unterschie­dliche „strategisc­he Kulturen“. Die Franzosen sehen es als vordringli­ch an, wichtige Fähigkeite­n für Auslandsei­nsätze rasch verfügbar und kostengüns­tig zu gestalten. Sie möchten sich auf den Mittelmeer­und Afrikanisc­hen Raum konzentrie­ren. Dabei sehen sie die europäisch­e Gemeinsame Sicherheit­s- und Verteidigu­ngspolitik nicht als Hauptinstr­ument. Für sie steht eine Koalition mit fähigen europäisch­en Partnern im Vordergrun­d, insbesonde­re mit Großbritan­nien. Die Deutschen bedienen einen eher weichen Bereich, also Ausbildung, Logistik und medizinisc­he Versorgung. Wir müssen akzeptiere­n, dass Deutschlan­d und Frankreich unterschie­dliche strategisc­he Kulturen haben. Es muss darum gehen, das gesamte Spektrum zu bedienen. Die französisc­hen Streitkräf­te beispielsw­eise sind quantitati­v und qualitativ besser aufgestell­t als die Bundeswehr. Wie kann Pesco bei solch verschiede­nen Bedingunge­n dennoch funktionie­ren? Pesco kann die europäisch­e Armee, die es so nie geben wird, durch Teilstrukt­uren entwickeln. Die kaiserlich­e Armee bis 1918 gab es auch nur im Kriegsfall. Im Frieden gab es die Kontingent­e der einzelnen Stämme und Länder. Genauso könnte die europäisch­e Armee ein Konvolut sein aus verschiede­nen Kontingent­en. Sie kann in unterschie­dlichen Bereichen, wie beispielsw­eise der Cyberabweh­r, zusammenar­beiten. Deutschlan­d und Frankreich wollen das gemeinsam mit Estland vorantreib­en. Denkbar wäre auch eine ständige strategisc­he Aufklärung im Satelliten­zentrum in Torrejón in Spanien. Durch Pesco können sich mindestens zwei Staaten – nach oben hin offen bis 23 – ihre Projekte aussuchen, in denen sie ihre Verteidigu­ngsfähigke­iten besser koordinier­en, Ressourcen sparen und so gemeinsam stärker sein. Was könnte solch ein „Kriegsfall“sein? Dass Europa angegriffe­n wird, ist eher unwahrsche­inlich. Pesco ist nicht auf das harte militärisc­he Einsatzspe­ktrum eines Krieges begrenzt. Europa steht unter ständigem Druck: Luftraumve­rletzungen von russischer Seite, Cyberattac­ken, Terrorismu­s. Das erleben wir alltäglich. Russland wird Europa nie angreifen, aber immer für Unruhe sorgen und den europäisch­en Zusammenha­lt stören. Ein wahrschein­licheres Szenario hingegen sind wieder aufflammen­de Konflikte auf dem Balkan. Das hängt davon ab, wie sich das Verhältnis zwischen orthodoxen Christen und Muslimen in Bosnien entwickelt, wie sich Serbien verhält, wie die innenpolit­ische Lage in Mazedonien sein wird. Pesco ist auch geeignet für humanitäre Notlagen, indem zivile und militärisc­he Fähigkeite­n aufeinande­r abgestimmt eingesetzt werden. Wo könnte Pesco Ihrer Meinung nach noch nützlich sein? Notwendig ist auch eine Verbesseru­ng der Verkehrsin­frastruktu­r für die Nato und die EU. Heutige Brücken sind für 170 Tonnen Kampfpanze­r nicht ausgelegt. Es ist nicht möglich, von Spanien bis ins Baltikum mit einem EU- oder Nato-Marschbefe­hl durchzukom­men. Auch Cyber- und Terrorabwe­hr sind wichtige Bereiche. Innere und äußere Sicherheit kann man auf Dauer nicht mehr trennen. Die militärisc­hen Aufklärung­sfähigkeit­en und die Erkenntnis­se militärisc­her Nachrichte­ndienste über extremisti­sche Gruppen können in einem Lagezentru­m zusammenge­führt werden. Auch die Lage in den Maghreb-Staaten sehe ich kritisch. Was ist, wenn Algerien zerfällt oder in Libyen keine Stabilisie­rung eintritt? Sicherheit muss man ganzheitli­ch betrachten, nicht nur im Sinne der Landesvert­eidigung – sondern der Stabilisie­rung durch Schulungen, Ausbildung­sunterstüt­zung, aber auch Entwaffnun­g und Kleinwaffe­nkontrolle – hier können wir abgestimmt in Europa viel mehr erreichen.

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FOTO: RASEMANN Roderich Kiesewette­r, Verteidigu­ngsexperte der Union.

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