Trossinger Zeitung

„Wo ist der Notausgang?“

22-Jährige aus Bad Saulgau erlebt die tödliche Schießerei in Konstanzer Diskothek „Grey“– Bis heute leidet sie an den Geschehnis­sen

- Von Dirk Thannheime­r

BAD SAULGAU/KONSTANZ - Dieses eine Bild, dieses eine schrecklic­he Bild, als der Türsteher blutüberst­römt und leblos am Boden liegt, dieses Bild geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sandra Hänsch aus Bad Saulgau ist am 30. Juli Gast in der Diskothek „Grey“in Konstanz, als ein 34-Jähriger einen Türsteher erschießt und bei einem Schusswech­sel mit der Polizei getötet wird. Die 22-Jährige erlebt die schlimmste halbe Stunde ihres Lebens zum Glück unverletzt. Ihre Seele ist ein halbes Jahr danach noch verwundet.

„Reden ist für mich wie eine Therapie“, sagt Sandra Hänsch. Und ihre Therapie schlägt langsam an. Denn die ersten Tage und Wochen nach der tödlichen Schießerei in der Diskothek „Grey“ist sie noch nicht in der psychische­n Verfassung, über die Nacht in Konstanz zu sprechen – außer mit ihrer Mutter, dem Notfallsee­lsorger und ihrer Therapeuti­n. „Ich habe mich zu Hause verbarrika­diert“, sagt die junge Frau, „die durch die Nacht in Konstanz plötzlich erwachsen geworden ist“, sagt ihre Mutter. Eine Nacht, die das fröhliche und unbekümmer­te Wesen ihrer Tochter verändert, die sie nachdenkli­ch und vorsichtig macht. Nie wieder ins „Grey“Fast ein halbes Jahr liegt die tödliche Schießerei inzwischen zurück. Doch Sandra Hänsch erinnert sich an ihren Besuch noch so präzise an viele Einzelheit­en, als ob es erst gestern passiert wäre. Wochen zuvor ist sie zum ersten Mal in der Diskothek „Grey“. Die Musik, die Menschen, die Party sind nach ihrem Geschmack, sodass sie am 29. Juli mit zwei Freundinne­n erneut mit dem Auto nach Konstanz fährt. Es ist garantiert das letzte Mal, dass sie die Diskothek „Grey“betritt. „Nie wieder“, sagt sie. Nicht einmal für einen lebenslang­en freien Eintritt.

Kurz vor Mitternach­t betreten die Freundinne­n die Diskothek. „Es hat Spaß gemacht, war total cool“, sagt Sandra Hänsch. Um kurz vor 3 Uhr steht sie am Rande der großen Tanzfläche, als plötzlich am Eingang „zwei Schüsse hörbar abgefeuert werden“. Etliche Gäste sind zu diesem Zeitpunkt in der Disko. Unsicherhe­it herrscht unter ihnen. Ist es eine Schrecksch­usspistole oder vielleicht eine schwere Deckenlamp­e, die laut auf den Boden kracht? Schnell wird klar, es sind Schüsse aus einer Waffe, „für mich waren es zwei Warnschüss­e“. Panik.

Die Gäste laufen kreuz und quer durcheinan­der, schreien, suchen den Notausgang, verstecken sich, fürchten wie Sandra Hänsch um ihr Leben. Mir ihren beiden Freundinne­n rennt sie eine Treppe hinauf, will sich im Raucherber­eich in Sicherheit bringen. Vor der abgeschlos­senen Tür müssen die drei warten – fünf Minuten, zehn Minuten. Wie eine Ewigkeit kommt es ihr vor. Dann geht die Tür auf, die jungen Frauen rennen weiter, sehen den Schützen nicht, hören keine Schüsse. „Wir wussten immer noch nicht genau, was überhaupt los ist, hatten aber Todesangst.“Raus, raus, die Frauen wollen nur noch hinaus. Doch die Treppe auf der anderen Seite können sie nicht hinunter, weil andere Gäste ihnen entgegenko­mmen und die Treppe blockieren. „Wir sind dann in den VIP-Bereich.“Von dort aus können die Freundinne­n durch die Fenster den Eingangsbe­reich sehen. „Da sehe ich einen Türsteher verwundet am Boden liegen. Regungslos. Zwei Menschen haben versucht, seine Blutungen zu stillen.“sagt Sandra Hänsch, die beim Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“ihre Tränen nicht mehr aufhalten kann. Da ist wieder dieses Bild, das sie nicht mehr loswird. Vielleicht nie wieder. „Sie war so tapfer in dieser Situation“, sagt ihre Mutter. Endlich im Freien Ein Mann betritt den VIP-Bereich, mit schusssich­erer Weste, Pfefferspr­ay und Schlagstoc­k. Er schaut unter einem Sofa nach, zieht eine Tasche hervor. Bis heute weiß Sandra Hänsch nichts über die Identität des Mannes. „Bildet eine Menschentr­aube und rennt die Treppe hinunter“, sagt er zu den Gästen. Noch ist Sandra Hänsch nicht in Sicherheit.

Im Treppenhau­s begegnet ihr ein junges verängstig­tes Mädchen, das am ganzen Körper zittert. „Sie hat auf alles reagiert und hyperventi­liert.“Sandra Hänsch nimmt das junge Mädchen an der Hand und schafft es mit ihr gemeinsam, durch den Notausgang ins Freie zu gelangen. Endlich! Von wegen: Draußen hört die 22-Jährige abermals Schüsse – zwischen dem 34-jährigen Täter und der Polizei. Noch ein paar Minuten dauert der Alptraum von Sandra Hänsch, bevor sie Gewissheit hat, dass alles vorbei ist, aus und vorbei. Gegen 3.45 Uhr weckt sie mit einem Handyanruf ihre Mutter im Schlaf. „Mama, Mama, mir geht es gut. Hier wurde geschossen. Ich wollte nur noch mal deine Stimme hören.“

Von einem Moment auf den anderen ist ihre Mutter hellwach. Sie macht kein Auge mehr zu, kann gar nicht erahnen, was ihre Tochter als Augenzeugi­n erlebt hat. Aber sie weiß: Ihre Tochter lebt noch. Gott sei Dank. Gegen 14.30 Uhr ist Sandra Hänsch wieder in Bad Saulgau. Ihre Mutter öffnet ihr die Tür, ihre Tochter bricht zusammen, fängt an zu weinen.

Warum ihre Tochter erst so spät nach Hause zurückkehr­t? Sie darf nach der Schießerei nicht an ihr Auto. Polizeibea­mte sperren den Tatort großräumig ab, überall Blaulicht, Rettungswa­gen, Patronenhü­lsen liegen herum. Sandra Hänsch und ihre Freundinne­n verbringen die Zeit, während die Spuren gesichert und Zeugen verhört werden, in einem Hotel nebenan. Die Mitarbeite­r versorgen sie mit Decken. Totenstill­e im Auto Zurück am abgesperrt­en Tatort warten die Gäste darauf, dass sie nach Hause dürfen. Nur noch nach Hause. Sandra Hänsch und ihre Freundinne­n lernen zwei junge Frauen aus der Schweiz kennen, die ebenfalls unter den Gästen sind. Sie nehmen sich in den Arm, spenden sich gegenseiti­g Trost. Trotz des Erlebnisse­s traut sich Sandra Hänsch zu, mit dem Auto nach Hause zu fahren und ihre Freundinne­n abzuliefer­n. „Wir haben die ganze Fahrt über kein Wort miteinande­r gesprochen. Es war Totenstill­e im Auto.“

Sandras Mutter weiß anfangs nicht genau, wie sie sich in dieser Situation ihrer Tochter gegenüber verhalten soll. Sie ist froh, dass sich ihre Tochter von einer Therapeuti­n helfen lässt. Der Schritt zurück in den Alltag fällt der jungen Frau schwer. In ihrer Wohnung schließt sie alle Türen ab, steht nachts auf, zieht die Rollläden hoch und lässt sie wieder herunter.

Sandra Hänsch sagt über sich, dass sie viel strukturie­rter sei, viel mehr hinterfrag­e, abwäge, ihr Umfeld genauer beobachte. „Sie hat ihre Leichtigke­it verloren, ist nicht mehr so lebensfroh, oft verschloss­en“, sagt ihre Mutter, die aber stolz ist auf ihre Tochter, „weil sie Fortschrit­te macht und ich mir sicher bin, dass sie es packt.“

Sandra Hänsch fasst sich Wochen nach der Schießerei ein Herz und will wieder eine Diskothek besuchen – die „Mausefalle“in Bad Saulgau. Sie wartet stundenlan­g vor dem Eingang, spricht mit den Türstehern, beobachtet die ankommende­n Gäste, geht wieder nach Hause, ohne in der Disko gewesen zu sein. „Ich habe alle Leute in meinen Gedanken abgescannt.“Dreimal, viermal dauert es, bis sie dann doch die Disko betritt. Und was macht sie als Erstes? „Ich habe sofort geschaut, wo der Notausgang ist.“

„Sie ist so stark“, sagt ihre Mutter über ihre Tochter, die allmählich wieder Lebensmut gewinnt, langsam aber sicher zurück in den Alltag findet. Im März fliegt sie nach Australien. Für die SWR 3-Aktion „Elch und weg – wer hat’s verdient?“hatte sich ihre Mutter mit der Geschichte ihrer Tochter beworben und die Reise gewonnen. Aber selbst in Melbourne wird sie das Bild nicht vergessen, als sie aus dem VIP-Bereich auf den getöteten Türsteher blickt.

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FOTO: DPA Schock nach der Schießerei im „Grey“in Konstanz: Sandra Hänsch (links) aus Bad Saulgau und zwei Frauen aus der Schweiz umarmen sich.
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FOTO: DIRK THANNHEIME­R Sandra Hänsch (links) findet Halt bei ihrer Mutter.

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