Der Mann des Jahres ist durchaus fehlbar
Meinung statt Plattitüden – „Kicker“kürt Freiburgs Christian Streich zur Person 2017
FREIBURG (SID/dpa) - Im Internet sind die Videoclips mit dem Titel „Best of Christian Streich“längst ein Renner. Bundestagswahl, soziale Gerechtigkeit, Flüchtlings-Politik, Rechtsruck in der Gesellschaft, Aufstieg der autoritären Regime – der Trainer des SC Freiburg hatte im zu Ende gehenden Jahr zu all diesen und vielen weiteren Themen eine meist kluge Meinung parat. Die anstehenden Spiele in der Bundesliga wurden bei den Pressekonferenzen oft zur Nebensache – die Auftritte Streichs hatten vielmehr gesellschaftspolitische Relevanz.
Nicht zuletzt deshalb wurde der 52-Jährige, der abseits des Platzes fast schon als linksliberaler Intellektueller bezeichnet werden kann, vom „Kicker“zum „Mann des Jahres 2017“gekürt. Das Fachmagazin würdigte mit Streichs Wahl zum Nachfolger von Weltmeister Toni Kroos eine „große Persönlichkeit, die im deutschen Fußball auch mit ihrer Haltung herausragend gewirkt hat“.
Ganz ähnlich hatte es der Börsenverein des deutschen Buchhandels formuliert, als er Streich im Freiburger Literaturhaus den Titel „Bücherfreund des Jahres 2017“verlieh. Der Trainer sei dafür bekannt, nicht nur im Fußball, sondern auch bei gesellschaftlichen Themen engagiert Position zu beziehen, so die Jury.
Und es mag paradox klingen – doch dass Streich, der heute seinen sechsten Jahrestag als Cheftrainer auf der Bank der Breisgauer feiert, die Auszeichnungen für seine Person eher differenziert sieht, gehört mit zu den Gründen für die Preise. „Ich bin natürlich ein eitler Mensch, da fühlt man sich geschmeichelt“, sagte der Coach: „Wenn Sie mich aber privat kennen und jeden Tag mit mir zusammenleben würden, würde ich wahrscheinlich keine Auszeichnung kriegen. Ich bin genauso fehlbar wie alle anderen.“
Daran besteht kein Zweifel. Wer Streich rund um die Freiburger Spiele erlebt, der muss oft den Kopf schütteln. Allzu oft stellt der Trainer übertriebene Emotionalität, überzogene Kritik und fragwürdige Attitüden zur Schau. Dass Gertjan Verbeek einst als Folge von Streichs grenzwertigem Verhalten an der Seitenlinie die Pressekonferenz boykottierte („Das ist für mich kein Kollege – wie ein Verrückter hat er agiert“), sagt viel über den SC-Trainer aus.
Doch Streich, den viele Experten und Kollegen für den fachlich besten Trainer der Liga halten, ist zur Selbstreflexion in der Lage. Der Mann aus Weil am Rhein mit seinem alemannischen Dialekt weiß nur zu gut, dass er am Spielfeldrand oft von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde mutiert – und dass er viele andere Macken hat.
„Ich entschuldige mich die ganze Zeit, weil ich die ganze Zeit Fehler mache“, sagte Streich, der mit seinem Image in der Öffentlichkeit nichts anfangen kann: „Ich will nicht als neunmalkluger Besser- oder Alleswisser erscheinen. Ich bin kein Welterklärer und Weltverbesserer, und ich habe auch nicht immer gute Umgangsformen, achte aber andere Menschen. Und ich denke über unser Zusammenleben nach.“ Seit 23 Jahren im Verein Dabei geht es Streich vor allem um Humanität und sozialen Frieden. „Wichtig ist, dass ich Steuern zahle in dem Land, in dem ich mein Geld verdiene, damit die Menschen, die nicht viel haben, unterstützt werden und wir eine soziale Marktwirtschaft haben“, so der Mann des Jahres: „Wir haben viel Wohlstand. Ich sehe es als Verpflichtung für Prominente, für die Leute einzustehen, denen die Sonne nicht immer ins Gesicht scheint.“
Damit passt er mit seiner Art und Attitude wie kein Zweiter auch in das alternative Umfeld der Studentenstadt im Breisgau und hat nicht nur dort sei geraumer Zeit Kultstatus. „Christian Streich ist das Gesicht des SC Freiburg“, sagt zum Beispiel Meistercoach Ottmar Hitzfeld: „Da steckt unheimlich viel Herzblut drin. Streich begreift jedes Spiel als Finale und lebt die totale Identifikation mit seinem SC Freiburg vor.“
Dass es der SC wiederum solange mit ihm aushält, dafür hat Streich eine bodenständige Antwort parat: „Sie machen das hier in Freiburg aus Überlegung und Kalkül, nicht nur, weil sie nett sind – dann wären sie auch fehl am Platz.“Und weiter: „Woanders sind sie nervöser, aber hatten in den letzten 20 Jahren nicht mehr Erfolg als wir.“
Generell arbeitet Streich für den SCF in unterschiedlichen Funktionen seit 23 Jahren. Er betonte jedoch, dass er in dieser Zeit noch kein einziges Training allein geplant habe. „Meine Qualität reicht nicht dafür. Ich mache alles mit meinen Kollegen“, sagt er – der Mann des Jahres.