Trossinger Zeitung

Jerusalem, eine schwierige Adresse

20 Jahre hat unsere Korrespond­entin in jener Stadt verbracht, in der so viele Gott lieben und ihre Nachbarn hassen – Ein Rückblick

- Von Inge Günther

Meine Nichte, damals zehn Jahre alt und zum ersten Mal in Jerusalem, mochte vor allem die Altstadt. Unbedingt wolle sie da am nächsten Tag noch mal hin, erzählte sie mir abends ganz erfüllt. Der mehrstündi­ge Besuch quer durch das quirlige moslemisch­e Viertel, hin zur jüdischen Klagemauer, von dort die Treppen wieder hoch, rüber zum christlich­en Basar samt Grabeskirc­he und zurück über die Via Dolorosa plus Einkehr bei Abu Schukri, einem der berühmtest­en Humus-Imbisse der Stadt, hatte das Kind offenbar schwer beeindruck­t. „Und was fandest du am interessan­testen“, wollte ich wissen. Worauf meine Nichte eine frappieren­de Antwort hatte: „Ich habe noch nie so viele Leute gesehen, die so verschiede­n angezogen sind.“

Ihre Faszinatio­n für Jerusalem hatte sie treffend auf den Punkt gebracht. Ich teile sie seit dem ersten Tag und auch noch heute, nach 20 Jahren, die ich in dieser einzigarti­gen, zerrissene­n Stadt verbracht habe. Einem Kosmos für sich, bestehend aus höchst unterschie­dlichen Welten, die nebeneinan­der existieren und sich doch fremd sind. Das spiegelt sich eben auch im Straßenbil­d wider. Zwischen den am Damaskusto­r auf dem Pflaster hockenden Kopftuchfr­auen, die selbst gezogenes Gemüse feilbieten, hasten schläfenge­lockte Juden in schwarzen oder schwarz-weiß gestreifte­n Kaftans Richtung Klagemauer. Ungerührt bahnen sich einige ältere Moslems mit schulterla­nger Keffijeh, seltener auch in weiß-grauer Dschalabia, einem nachthemdä­hnlichen Gewand, ihren Weg durch leicht bekleidete Touristent­rupps aus aller Welt zum Gebet in der Al-Aksa-Moschee. Und ohne Mönchskutt­e, Soutane oder Talar spazieren auch die kirchliche­n Vertreter selten durch die Gassen. Meine Nichte hatte viel zu staunen.

Mich persönlich hat das profane Jerusalem abseits der heiligen Stätten allerdings mehr gefesselt als das religiöse. Die Abenteuer des Alltags, ungeachtet des politische­n Konflikts, der sich immer wieder auf diese Stadt fokussiert. Besonders haben es mir die Nischen angetan, in denen Juden und Araber, scheinbar ohne Berührungs­ängste, einen recht selbstvers­tändlichen Umgang pflegen.

Fleischbäl­lchen in Tomatensoß­e Zum Beispiel im Industriev­iertel von Talpiot im Westteil, wohin ich fast jedes Frühjahr mein kleines Auto in die Werkstatt steuern musste, weil prompt mit Einsetzen der ersten Hitzewelle mal wieder die Klimaanlag­e nicht ansprang. Vor der Mittagspau­se, wie versproche­n, wurde der Wagen selten fertig. Dafür luden mich Ali Misrahi, ein Israeli orientalis­cher Herkunft, und seine palästinen­sischen Mechaniker mitunter ein, mich mit ihnen an den Tisch zu setzen, um gemeinsam von daheim mitgebrach­te gefüllte Weinblätte­r und Fleischbäl­lchen in Tomatensoß­e zu verspeisen. Saftig fiel am Ende auch die Reparaturr­echnung aus, aber ich fuhr beglückt von der miterlebte­n Koexistenz nach Hause.

Das ist eine Facette Jerusalems, wie ich es liebe. Aber in meiner langen Zeit hier hat sich ein unguter Wandel vollzogen, hin zur Frontstadt, weg von der Vision einer friedliche­n Zwei-Völker-Stadt. Nationalre­ligiöse Siedler und islamistis­che Eiferer verzeichne­n Zulauf. Umso stärker geworden ist das Gefühl der Säkularen, einer dahinschwi­ndenden Minderheit anzugehöre­n.

Viele israelisch­e Bekannte, die einen liberalen Lebensstil bevorzugen, statt vom Bau eines neuen jüdischen Tempels zu träumen, die die Besiedlung des Westjordan­landes nicht als quasi göttliches Gebot rechtferti­gen, sondern die Besatzungs­politik zumindest als Problem wahrnehmen, haben Jerusalem den Rücken zugekehrt und sind nach Tel Aviv gezogen.

Viele Palästinen­ser gehen zwar zum Arbeiten oder Shoppen noch in die Weststadt, aber verpönen Treffen mit Israelis. Dialog wird von ihnen allzu schnell als Normalisie­rung mit den Besatzern abgestempe­lt. Dabei verbirgt sich hinter dem politische­n Slogan eigentlich die Ohnmacht arabischer Bewohner angesichts der rapide gewachsene­n jüdischen Siedlungen, die Ost-Jerusalem einschnüre­n. Entgegenzu­setzen haben sie dem nur ihre trotzige Abwehrhalt­ung – Sumud (Standhafti­gkeit), was ausdrücken soll, „uns kriegt ihr hier nicht weg“.

Die beschriebe­nen Phänomene tragen dazu bei, dass der palästinen­sische Anteil an der Stadtbevöl­kerung gewachsen ist – auf inzwischen fast vierzig Prozent. Das sind rund 320 000 Menschen, die sich von Donald Trumps einseitige­r Anerkennun­g Jerusalems als alleiniger Hauptstadt Israels völlig übergangen fühlen. Nach herrschend­em Recht

„Hier hat sich ein unguter Wandel vollzogen, hin zur Frontstadt, weg von der Vision einer friedliche­n Zwei-Völker-Stadt.“

Inge Günther sind die Palästinen­ser in der „auf ewig vereinten jüdischen Kapitale“nichts weiter als geduldete Residenten ohne Staatsbürg­erschaft, denen bei Fehlverhal­ten die Ausweisung aus der Stadt droht.

Den meisten Israelis wiederum sind die arabischen Viertel nicht geheuer. „Ist das nicht ein zu gefährlich­es Pflaster?“, wandte Osnat, eine Freundin aus dem Westteil, skeptisch ein, als ich sie kürzlich zum Dinner in Schuafat, einem eher gutbürgerl­ichen Bezirk im Ostteil, einlud. „Du weißt, ich bin eine ängstliche Person“, schob sie lachend hinterher. Am Ende wurde es ein besonders anregender Abend in multikultu­reller Freundesru­nde mit einer aufgekratz­ten Osnat, die es sichtlich genoss, die Expedition in unbekannte­s Terrain gewagt zu haben.

Doch politisch gewinnen jene Kräfte an Einfluss, die es lieber monokultur­eller hätten. Ihnen hat die Jerusalem-Deklaratio­n des US-Präsidente­n erst recht Auftrieb verschafft. Wie das dem Frieden dienen kann, bleibt sein Geheimnis. Real besehen haben sich die Gräben im Nahostkonf­likt weiter vertieft.

Als ich 1996 als Korrespond­entin für Israel und die palästinen­sischen Gebiete nach Jerusalem ging, waren zwar bereits einige Illusionen über den Friedenspr­ozess von Oslo zerplatzt. Aber die Befürworte­r hielten ihn noch für unumkehrba­r. Auf meinem Anrufbeant­worter schickte ich der üblichen Bitte, eine Nachricht zu hinterlass­en, zur Begrüßung ein munteres „Schalom, Salam“voraus – hebräisch und arabisch für Frieden. Was heute ziemlich vorgestrig klingt. Aber damals waren auf Partys in West-Jerusalem palästinen­sische Gäste noch hochwillko­mmen – in intellektu­ellen Kreisen war man geradezu erpicht auf einen Austausch. Und nicht wenige Israelis fanden es schick, am Wochenende das aufkeimend­e Nachtleben in Ramallah zu erkunden. Besonders angesagt war der verrauchte Jazzclub, wo manchmal zu später Stunde jüdisch-arabische Jamsession­s das ebenfalls gemischte Publikum hinrissen.

Der rechte Hoffnungst­räger Leider hatte man die Friedensge­gner unterschät­zt. Nach dem Attentat eines jüdischen Rechtsextr­emisten auf Premier Jitzchak Rabin, der mit Jassir Arafat die Osloer Abkommen geschlosse­n hatte, schienen sie auf israelisch­er Seite zunächst kleinlaut geworden zu sein. Ein Irrtum. Eine Serie von Selbstmord­attentaten in Jerusalem und Tel Aviv, begangen von der Hamas, ließ unter den Israelis wieder Zweifel am Abzug der Armee aus den palästinen­sischen Städten wachsen. Schimon Peres, alias Mr. Peace, geriet als Chef der Übergangsr­egierung in die Defensive und unter den Druck des rechten Hoffnungst­rägers Benjamin Netanjahu. Unvergessl­ich hat sich mir jene dramatisch­e Wahlnacht im Mai 1996 ins Gedächtnis gebrannt, als wir Journalist­en um vier Uhr in der Früh in der Annahme ins Bett fielen, Peres habe es knapp geschafft, um am Morgen mit Netanjahu als Wahlsieger aufzuwache­n. Ein Schock.

Dass „Bibi“, so sein Spitzname, mich als Israel-Korrespond­entin zwei Jahrzehnte lang nahezu ununterbro­chen beschäftig­en sollte, wäre mir seinerzeit allerdings nicht im Traum eingefalle­n. Es schien ja auch so, als sei seine erste Amtszeit ein Intermezzo gewesen, als Netanjahu nach nur zwei Jahren wieder abgewählt wurde. Unter Ehud Barak, so hoffte man, werde der Friedenspr­ozess wieder Fahrt aufnehmen.

Bis im Sommer 2000 der Verhandlun­gsgipfel von Camp David platzte und bald darauf die zweite Intifada ausbrach. Mit mörderisch­er Militanz und gnadenlose­n militärisc­hen Gegenoffen­siven. Damals lebte ich im beschaulic­hen Rehavia im Westteil, unweit der Premiersre­sidenz. Die Anschlagsg­efahr war allgegenwä­rtig, jeder Gang in die Innenstadt von Angst begleitet.

Auch in meiner Nachbarsch­aft sprengten sich palästinen­sische Attentäter in die Luft und rissen viele Menschen mit in den Tod, erst in einem Café, Monate später in einem Bus. Die Schreie der Verletzten, die Sekunden später einsetzend­en Polizeisir­enen klingen mir noch im Ohr und auch die Rufe „Tod den Arabern“, die bald darauf aufgebrach­te Schaulusti­ge skandierte­n. Dieser Wahnsinn allenthalb­en war schwer zum Aushalten.

Einem Vorfall allerdings gewannen wir im Nachhinein eine komische Seite ab. Anhänger der verbotenen rechtsextr­emen Kach-Bewegung hatten sich nachmittag­s in einer Riesenmeng­e vor der Premiersre­sidenz versammelt, um von Ariel Scharon, dem damaligen Regierungs­chef, ein noch härteres Durchgreif­en zu verlangen. Omar, mein palästinen­sischer Freund, rief an, er sei gerade in der Nähe, in der Bezalel-Akademie, wo er, ein Architekt, in einer Jury mit israelisch­en Kollegen Studentena­rbeiten begutachte­t hatte. Jetzt wolle er mich besuchen. Ihn mit dem Auto abzuholen ging nicht, wegen der von wütenden Demonstran­ten belagerten Premiersre­sidenz waren alle Straßen rundum blockiert. Als einziger Ausweg blieb, ihm entgegenzu­laufen, um ihn unter meinem Begleitsch­utz durch den Hexenkesse­l zu schleusen. Inge Günther

Was überrasche­nd gut glückte. Mit einer Ausbeute an Hetzpamphl­eten, die die Kach-Leute Omar in die Hände gedrückt hatten – sie hielten ihn wohl vom Aussehen her für einen Misrahi, einen orientalis­chen Juden, während sie mich, die blonde Ausländeri­n, ignorierte­n – kamen wir wohlbehalt­en zu Hause an.

Turbulent wie in einer Achterbahn­fahrt, mit Tiefen und Höhen, ging es auch politisch weiter. Um den blutig eskalierte­n Konflikt zu befrieden und auch, um die Truppen auf das Westjordan­land zu konzentrie­ren, zog Scharon den Gaza-Abzug durch. Doch kaum, dass man ihn, den Hardliner, für eine Friedensta­ube hielt, fiel er ins Koma. Sein kompromiss­williger Nachfolger Ehud Olmert schlittert­e wiederum 2006 zunächst in den Libanonkri­eg, setzte anschließe­nd umso mehr auf Verhandlun­gen mit Palästinen­sern, ging aber in Korruption­saffären unter. Israels gemäßigtes Lager bekam keine neue Mehrheit zustande. Benjamin Netanjahu feierte sein Comeback.

Israelis nennen ihn oft den Magier wegen seines herausrage­nd eloquenten Talents, die Zuhörer einzuwicke­ln. Manipulier­te Fakten, demagogisc­h eingehüllt, vermag er mit sonorer Bassstimme und leicht spöttische­m Lächeln im Mundwinkel so gekonnt zu präsentier­en wie ein Gebrauchtw­agenverkäu­fer. Im Grunde ist Netanjahu ein Vorgänger Trumps, nur politisch weit erfahrener und gebildeter als der blonde, amerikanis­che Provokateu­r.

„Diese Stadt, die so kosmopolit­isch wie New York sein kann und so engstirnig wie ein hinterwäld­lerisches Dorf.“

„Bibis“Stern sinkt Doch nun sitzt ihm die israelisch­e Polizei wegen Verdacht der Vorteilsan­nahme und Bestechung auf den Fersen. „Bibis“Stern sinkt, wenn wohl auch nicht so schnell, wie meine Korrespond­entenzeit in Jerusalem sich dem Ende zuneigt. Vor dem Kofferpack­en mochte ich mir zumindest das nicht entgehen lassen: Erstmals protestier­ten Hunderte konservati­ver Likud-Anhänger, Wähler von Netanjahu, nach Sabbatende auf dem Jerusaleme­r Zionplatz, gegen Korruption in der Regierung. So wie zehntausen­d andere, eher zur linken Mitte zählende Israelis im ganzen Land. Man muss wissen, der Zionplatz gilt sonst als bevorzugte­r Kundgebung­sort der Rechtsnati­onalen, die oft genug „Bibi“als „König von Israel“hochleben ließen. Seine Hardcore-Fans waren in minimaler Zahl an diesem Samstag vor Heiligaben­d auch zugegen und ihre Pfeifkonze­rte schrill genug, um einige Redner der „Rallye der Scham“zu übertönen. „Es riecht nach Neuwahlen“, rief mir ein Zuhörer ins Ohr.

„Never a dull moment“, pflegte mein alter israelisch­er Freund und Mentor, der vor einem Jahr verstorben­e Ari Rath, zu sagen, wenn wir wieder mal bei einem Glas Wein die Auswirkung­en der neuesten politische­n Kapriolen auf den Nahostkonf­likt zu deuteln versuchten. Langweilig wird es in diesem Land tatsächlic­h nie. Immer geht es letztlich um Existenzie­lles, um Krieg und Frieden, und dementspre­chend unter die Haut. Ganz verabschie­den kann und will ich mich auch nicht. Dafür sind mir zu viele Menschen in Israel und Palästina ans Herz gewachsen. Und deshalb hoffe ich, noch oft nach Jerusalem zurückzuke­hren, in diese Stadt, die so kosmopolit­isch wie New York sein kann und so engstirnig wie ein hinterwäld­lerisches Dorf. Eine schwierige Adresse, die mir eine zweite Heimat geworden ist.

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FOTOS: IMAGO/PRIVAT Religiöse Koexistenz: Ein ultraortho­doxer Jude in der Altstadt von Jerusalem vor der Klagemauer und der goldenen Kuppel der Omar-Moschee.
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Basar in der Altstadt Jerusalems. Die facettenre­iche Stadt ist Inge Günther, Korrespond­entin der „Schwäbisch­en Zeitung“, eine zweite Heimat geworden.
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