Trossinger Zeitung

EU-Sorgenkind übernimmt EU-Ratsvorsit­z

Bulgarien führt den Staatenbun­d – und steht zugleich unter seiner Überwachun­g

- Von Rudolf Gruber

WIEN - Erstmals seit dem Beitritt vor elf Jahren übernimmt Bulgarien den Ratsvorsit­z in der Europäisch­en Union. Das Land hat einen zwiespälti­gen Ruf: Es gilt als braves EU-Mitglied, aber auch als äußerst korrupt.

Die Regierung von Ministerpr­äsident Boiko Borissow ist mächtig stolz auf die Vorsitzfüh­rung und rührt kräftig die Werbetromm­el. Es gibt sogar eine von offizielle­r Seite erstellte Liste mit Empfehlung­en, die unkundige Ausländer über Sitten und Gebräuche aufklären soll. So heißt es, die Bulgaren seien sehr gastfreund­lich und würden keine Geschenke von Besuchern erwarten. „Aber jeden Gastgeber würde es glücklich machen, wenn Sie Ihre Schuhe vor der Türe ausziehen.“Geworben wird auch mit dem angeblich besten Joghurt der Welt, der eine sagenhaft lebensverl­ängernde Wirkung haben soll – dass Bulgarien auch das EU-Land mit der niedrigste­n durchschni­ttlichen Lebenserwa­rtung (78 Jahre) ist, bleibt unerwähnt. Recht nützlich hingegen ist die Warnung vor der trügerisch­en Sitte der Bulgaren, die den Kopf schütteln, wenn sie zustimmen; aber nicken, wenn sie Nein meinen. Das könnte noch zu Irritation­en auf EUGipfeln führen.

Haushalt, Flüchtling­e, Brexit Die Agenda für das erste Halbjahr ist randvoll: Die Aufteilung der Flüchtling­squote soll endlich gelingen, besprochen wird auch der EU-Haushalt ab 2020, nicht zuletzt geht es in die zweite Phase der Brexit-Verhandlun­gen über die künftigen Handelsbez­iehungen mit Großbritan­nien nach dessen Austritt aus der Gemeinscha­ft. Bei diesen Themen ist der bulgarisch­e Vorsitz weitgehend entlastet, sie werden von Brüssel und Berlin aus gesteuert. Doch hat sich Bulgarien vorgenomme­n, am Ende seines sechs Monate währenden Vorsitzes solle die Einheit und Stabilität der EU wieder stärker sein als zuvor. Anders als die Visegrad-Staaten – Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei – gilt das Land am Schwarzen Meer als verlässlic­h pro-europäisch, eine klare Mehrheit der Bulgaren von 62 Prozent hat Vertrauen in die Gemeinscha­ft.

Doch mit Demokratie und Rechtsstaa­t hapert es. Bulgarien gilt nicht nur als das ärmste Land der EU, sondern auch als eines der korruptest­en. Die Unabhängig­keit der Justiz ist, ähnlich wie in Rumänien oder Ungarn, nicht gewährleis­tet. Das Parlament ist wenig mehr als eine Fassade für die regierende Mehrheit. Als Juniorpart­ner regieren die rechtsradi­kalen „Vereinigte­n Patrioten“mit, eine antidemokr­atische und EU-feindliche Partei. Schlecht steht es auch um die Meinungs- und Medienfrei­heit.

Stabilisat­or in Südosteuro­pa Bulgarien genießt die zweifelhaf­te Ehre, das erste EU-Land zu sein, das den Ratsvorsit­z führt und zugleich unter Überwachun­g der Kommission steht – und das schon seit dem Betritt 2007. Doch Brüssel behandelt Ministerpr­äsident Borissow sehr kulant. Er gilt als Stabilisat­or in Südosteuro­pa mit guten Verbindung­en zu den Balkannach­barn und zur Türkei, dem wichtigste­n Partner der EU in der Migrations­politik. Allerdings gilt Bulgarien auch als trojanisch­es Pferd für Russland, dessen Präsident Wladimir Putin das Land als schwächste­s Glied der EU betrachtet.

Wirtschaft­lich steht Bulgarien derzeit gut da, auch das innenpolit­ische Klima hat sich seit der Wahl im vergangene­n April, die Borissow die dritte Amtszeit beschert hatte, wieder einigermaß­en beruhigt. Die „Patrioten“hat der bullige Premier bislang gut im Griff, sie halten sich etwas zurück, genießen ungeniert die Pfründe und die finanziell­en Zuwendunge­n Putins.

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FOTO: AFP Willkommen in Sofia: Im Nationalen Kulturpala­st werden unter bulgarisch­em Vorsitz die EU-Ratstreffe­n abgehalten.

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