Trossinger Zeitung

Die Angst wächst

Ulmer Rabbiner befürchtet, dass Antisemiti­smus zunehmen wird – Gedenken an die Opfer des Nationalso­zialismus

- Von Daniel Hadrys

RAVENSBURG/ULM - Elektronis­che Augen beobachten jeden Winkel. Die Kameras filmen die Straßen um die Neue Synagoge im Herzen Ulms, als handle es sich dabei um einen Hochsicher­heitstrakt, und nicht um ein Gotteshaus, in dem sich Gemeindemi­tglieder zum Beten treffen.

Diese Kameras sagen viel aus. Sie zeugen von der Schutzbedü­rftigkeit jüdischer Einrichtun­gen, die für einige Menschen Hassobjekt sind. Und davon, dass der Antisemiti­smus auch in Deutschlan­d nie ganz weg war – sondern sich wieder festigt.

Shneur Trebnik empfängt im Inneren der Synagoge. Besucher müssen sich anmelden. „Die Überwachun­g war nicht unser Wunsch“, erzählt der Rabbiner. „Das Innenminis­terium hat uns dazu geraten.“

Warum, zeigt eine zerbrochen­e Steinplatt­e an der Außenfassa­de. Im Sommer 2017 hat ein Unbekannte­r die Wand traktiert. In der einen Nacht mit einem Metallpoll­er, einige Nächte später mit Tritten. Die Polizei geht davon aus, dass es sich in beiden Fällen um denselben Verdächtig­en handelt – und dass er antisemiti­sche Motive hatte. Der Staatsschu­tz ermittelt.

Dieser Fall ist einer von 71 antisemiti­schen Straftaten, die die badenwürtt­embergisch­en Behörden im vergangene­n Jahr bis zum 30. September gezählt haben. 2014 sind es im Südwesten 166 gewesen. Im Bund und in Bayern haben die Fälle hingegen zugenommen. Im ersten Halbjahr 2017 ist die Zahl antisemiti­scher Delikte erstmals seit zwei Jahren angestiege­n. Von Januar bis April waren es in Deutschlan­d 681, im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum sind das 27 Delikte mehr. In Bayern waren es im Jahr 2016 insgesamt 176 Delikte (2015: 132). „Zunehmende Einzelfäll­e“„Wenn ich die kompletten 18 Jahre zurückdenk­e, befürchte ich, dass es zugenommen hat“, sagt Shneur Trebnik, der in Israel geboren ist und vor 18 Jahren nach Deutschlan­d gekommen ist. Auch er selbst wurde Opfer antisemiti­scher Provokatio­nen. „Ich war auf dem Weg nach Hause, als ein Mann mich gefragt hat, warum ich wie ein Rabbiner bekleidet herumlaufe“, erinnert sich der 42-Jährige, den die Kippa, der schwarze Hut und der dunkle Anzug als gläubigen Juden ausweisen. „Er sagte, ich würde ihn als Deutschen provoziere­n.“

Es seien „zunehmende Einzelfäll­e“, sagt Trebnik. Viele der jüngeren Gemeindemi­tglieder würden sich in den Schulen nicht als Juden zu erkennen geben. Die große Mehrheit der Ulmer sehen laut Trebnik das jüdische Leben in ihrer Stadt zwar positiv oder neutral, und nicht „anti“. „Aber das ,Anti’ nimmt leider zu.“Den Großteil der antisemiti­schen Straftaten begehen Rechte, zeigen die Statistike­n. „Allerdings haben wir Rückmeldun­gen aus der jüdischen Gemeinde, dass antisemiti­sches Gedankengu­t unter Geflüchtet­en stark verbreitet sei“, heißt es aus dem baden-württember­gischen Innenminis­terium. Menschen aus Nahost und Nordafrika würden die Ablehnung für Israel mit in ihre neue Heimat tragen. Als US-Präsident Donald Trump die Verlegung der amerikanis­chen Botschaft nach Jerusalem angekündig­t hatte, brannten in Deutschlan­d Israel-Flaggen. In Berlin skandierte­n Demonstran­ten antisemiti­sche Sprechchör­e. In München wurde eine Pro-Israel-Gruppe attackiert. Den Hass auf Juden dürfe man aber nicht ausschließ­lich oder vorrangig bei Zuwanderer­n und Muslimen verorten, sagt die baden-württember­gische Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras (Grüne) am Freitag zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalso­zialismus“an der Ulmer Synagoge. Man müsse dem Antisemiti­smus entgegentr­eten, der „tief in der Gesellscha­ft verankert“sei.

Das zeigt sich auch in der deutschen Politik, in der der offene Antisemiti­smus wächst. Der baden-württember­gische Landtagsab­geordnete Wolfgang Gedeon darf in der AfDFraktio­n bleiben, obwohl er als Holocaust-Leugner gilt. Auch bei den Linken gibt es Antisemiti­smus. Der Reformerfl­ügel der Partei verfasste 2014 den Aufruf „Ihr sprecht nicht für uns!“. Darin heißt es, einige Mitglieder „in verantwort­lichen Positionen“würden „durch Schürung obsessiven Hasses auf und der Dämonisier­ung von Israel antisemiti­sche Argumentat­ionsmuster und eine Relativier­ung des Holocaust“befördern. Die Linke hat sich kürzlich als einzige Partei bei einer Bundestags­entscheidu­ng zur Einsetzung eines Antisemiti­smus-Beauftragt­en enthalten.

„Das hat sehr viel mit der politische­n Lage in Nahost und in Israel zu tun“, erklärt Trebnik. Hinter IsraelKrit­ik verberge sich oft – nicht immer – Antisemiti­smus. Menschen würden dabei nicht zwischen Israel, Juden und den jüdischen Gemeinden unterschei­den. „Da wird alles in einen Topf reingeworf­en. Menschen fragen dabei nicht, ob es auch etwas Gutes oder eine andere Seite der Medaille gibt.“

Trebnik wünscht sich mehr konstrukti­ve Fragen, auch kritische. „Solange Menschen aber ausschließ­lich kritisiere­n, wird es Vorurteile geben.“

Und die Kameras wohl bleiben.

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FOTO: RASE Mehr als 70 Straftaten gegen Juden zählte das baden-württember­gische Innenminis­terium für 2017.
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FOTO: ALEXANDER KAYA Shneur Trebnik

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